Ästhetik nach Adorno III

Gesellschaft am Werk

Eine Rehabilitation des Materialbegriffs als kritische Kategorie.

Auch wenn Adornos Ästhetik scheinbar eine Renaissance erlebt, findet sich dort vieles, mit dem heutige Theoretiker und Künstler wenig anfangen können. Vor allem die überragende Bedeutung, die die Musik für Adorno hatte, bleibt den meisten fremd. Umso mehr trifft das auf den Begriff des künstlerischen Materials zu. Nicht nur ist er an der Musik gebildet, er verkörpert auch auf emphatische Weise den fragwürdigen Gedanken eines eindeutigen Fortschritts in der Kunst. Trotz oder grade wegen des Desinteresses, das diesem Kernbegriff der Ästhetik Adornos entgegengebracht wird, sollte er weiterhin produktiv gemacht werden.

Der Materialbegriff ist in mehrfacher Hinsicht ein Scharnierbegriff: Er vertritt Geschichte und Gesellschaft im Inneren einer als autonom gedachten Kunst, und er ist die Stelle, an der die Objektivität des Vorliegenden und die Subjektivität des Künstlers sich miteinander vermitteln. Der erste entscheidende Punkt ist dabei, jegliches Material als sedimentierten Geist und damit als zutiefst historisch zu verstehen: Wonach man auch greift, alles ist vorgeprägt, mit Assoziationen belegt und zumeist mit Bedeutungen überfrachtet. Das gilt für den scheinbar neutralen Naturstoff Stein ebenso sehr wie für überlieferte Formen wie tonale Verbindungen oder gar die menschliche Figur, aber auch für Konzepte von Zeit und den Umgang mit ihr. Mit künstlerischem Material gestalten bedeutet, sich zu diesen inner- und außerkünstlerischen Vorprägungen zu verhalten, mit ihnen umzugehen und sie zu verändern.

Der Person der Künstlerin und des Künstlers fällt bei Adorno eine zwar wichtige, aber doch deutlich ambivalente Rolle zu, weil er sich bestimmten Tendenzen gegenübersieht, die im Material selbst stecken und denen er gerecht werden muss. Dabei sind diese Tendenzen objektiv, sie zeigen sich allerdings erst dann, sobald mit dem Material gearbeitet und umgegangen wird. Der gesellschaftliche, historisch geprägte Raum, in dem jede künstlerische Praxis stattfindet, bleibt dem Künstler nicht äußerlich, sondern wirkt dadurch auf den Künstler, dass er Aspekte und Dimensionen vorangegan­gener Kunst und ihrer gesellschaftlichen Umgebung zum Material macht. Dabei wird man eher nicht von prä­zisen Anforderungen sprechen können, wohl aber davon, dass Probleme offen bleiben, dass Dinge nicht mehr oder nur unter vollkommen veränderten Bedingungen möglich sind und dass sich neue Fragen er­geben, zu denen man sich verhalten muss.

Richard Klein spricht in seinem Buch »Musikphilosophie zur Einführung« von einem »mobilen Gedächtnisraum«, innerhalb dessen sich künstlerisches Handeln bewege. Auch wenn nicht mehr eindeutig ist, wo in diesem Raum anzusetzen und was genau zu tun sei, bleibt entscheidend, dass die kritische Reflexion des Materials die zentrale Aufgabe jeglicher Kunst ist, der Modus ihres Fortbestands. Erfindungsreichtum oder Kreativität allein sind so wenig ein Kriterium für ein gelungenes Kunstwerk wie spektakuläre oder auch radikale Gesten, die Einbeziehung von Theorie oder die klare politische Haltung des Produzenten. Kunstwerke gewinnen Plausibilität und Kraft nur dadurch, dass sie sich ausdrücklich und reflektiert im Raum des bereits Gegebenen situieren und an und mit ihm arbeiten.

Die derzeit vieldiskutierte Pluralisierung heißt damit nicht Beliebigkeit, sondern eine Vervielfältigung von Möglichkeiten sowie Beschränkungen. Diese Vervielfältigung macht schon lange nicht mehr vor medialen und disziplinären Grenzen halt, die Adorno noch deutlich strikter gezogen wissen wollte. Allerdings ist es ein fundamentales Missverständnis, seinen Materialbegriff mit Clement Greenbergs Begriff des Mediums zusammenzubringen. Adornos Skepsis gegenüber intermedialen Gestaltungen hatte nichts mit der Essentialisierung künstlerischer Me­dien zu tun, sondern mit dem Verdacht, dass dabei der konsequenten kritischen Reflexion aus dem Weg gegangen wird. Dass das oft der Fall ist, bleibt  unbestreitbar, ebenfalls aber, dass es nicht so sein muss.

Daher erscheint es geboten, den Begriff des Materials durch den des Ortes anzureichern. Der Gedächtnisraum ist bevölkert von sehr verschiedenen Traditionssträngen, Produktions-, Darbietungs- und Rezeptionsformen, und die Situierung der ei­genen Arbeit ist immer auch eine Entscheidung. Hat man diese aber getroffen, findet man sich Material mit deutlich klareren Anforderungen gegenüber, so wie jede Grenzüberschreitung Freiheiten und Zwänge zugleich produziert. Die Frage ist so nicht nur, was möglich und geboten ist, sondern wo es möglich ist – in welcher künstlerischen Dis­ziplin, welchem institutionellen Setting, welcher diskursiven Lage, auf welchem Kontinent, unter welchem politischen System. Dass Kriterien fließend und Grenzen fragwürdig werden und dass die Kunst ihren Teil dazu beiträgt, bedeutet nicht, dass damit Orte bedeutungslos und Materialien beliebig würden. Der Materialbegriff erinnert daran, dass sich diese Auseinandersetzungen nicht irgendwo da draußen abspielen, sondern im Inneren jeder künstlerischen Praxis und jedes Kunstwerks selbst.

Unter dem Titel »Ästhetik nach Adorno. Autonomie, Kritik, Versöhnung« findet vom 21. bis zum 23. Juni in Berlin ein Symposium statt, auf dem mit Rückgriff auf die ästhetische Theorie Theodor W. Adornos das derzeitige Verhältnis zwischen Politik, Gesellschaft und Kunst
kritisch diskutiert werden soll. In der »Jungle World« geben drei der Teilnehmer, die Philosophen Anne Eusterschulte, Michael Hirsch und Christian Grüny, einen kurzen Einblick in das Thema ihres jeweiligen Vortrags, insbesondere in Hinblick auf politische Kunst.