Kapitalismus und Moral

Dick im Geschäft

Immer mehr Konzerne verkaufen ihre Produkte mit dem Versprechen, die Welt zu verbessern. Schließlich sollen auch Konsumkritiker mit gutem Gewissen konsumieren.

Nicht jeder, der Sport treibt, sieht schlank und athletisch aus. Dass ausgerechnet der weltweit größte Sport­artikelhersteller Nike erst vor zwei Jahren eine Plus-Size-Kollektion eingeführt hat, ist daher etwas erstaunlich, denn sogenannte Übergrößen haben sich in der Modebranche mittlerweile durchgesetzt. Seit Anfang Juni ist die Kollektion in aller Munde, und das hat Nike einer britischen Journalistin zu verdanken, beziehungsweise dem Shitstorm, den sie auslöste.

Möglicherweise wäre kaum jemand auf die »dicke« Schaufensterpuppe im dritten Stock des Nike-Flagship-Store in Londons Oxford Street aufmerksam geworden, wäre da nicht Tanya Gold gewesen. In ihrem Kommentar im britischen Telegraph kritisierte sie Nike scharf und warf dem Konzern Zynismus vor. »Übergewichtige Mannequins verkaufen Frauen eine gefährliche Lüge«, schreibt sie. Denn diese Puppe trage nicht »Größe 16 – zwar ein schweres Gewicht, aber keines, das eine Frau ­töten würde. Sie ist immens, gigantisch, riesig. Sie wabbelt vor Fett. Sie ist in ­jeder Hinsicht fettleibig«, so Gold, die mit ihrer nicht gerade sanften Wortwahl die Verfechterinnen und Verfechter der body positivity auf den Plan rief. Viele Plus-Size-Influencer prangerten Golds Kritik an der angeblichen Verharmlosung von Übergewicht als bodyshaming an.

Marken, die in der Aufmerksamkeitsökonomie nicht untergehen wollen, müssen einen kommu­nikativen Mehrwert anbieten.

Dabei bieten heutzutage die meisten Modemarken, die auf ein zeitgemäßes Image Wert legen, Plus-Size-Größen an. In der Werbung werden curvy Models immer präsenter. Dass alle Menschen sich schön fühlen dürfen, unabhängig von Größe, Alter und Gewicht, ist im Mainstream angekommen. Warum ein einziger Kommentar in einer konservativen Zeitung dennoch solch heftige Reaktionen auslöst, ist schnell erklärt: Weil es mal wieder um einen mächtigen gesellschaftlichen Trigger geht, nämlich um die Frage, wie ein Frauenkörper auszusehen hat. In diesem Fall handelt es sich nicht um den Körper eines Models auf dem Laufsteg, sondern den ­einer Frau, die etwas leisten möchte, nämlich Sport. Die Telegraph-Kolumnistin kritisiert den Konzern nicht für das, was er in ihren Augen ästhetisch vertritt – Hässlichkeit –, sondern dafür, dass er keine »gesunden« Werte transportiere. Die Journalistin glaubt zu wissen, dass Frauen, deren Maße denen des Nike-Mannequins ähneln, nicht rennen können, mehr noch: Die Figur der Schaufensterpuppe lasse auf eine »baldige Diabeteserkrankung oder Hüftoperation« schließen.

Diesen Frauen wird so vollkommen willkürlich eine Form von Behinderung attestiert. Heutzutage gilt es als politisch unkorrekt, Körper allein aufgrund ihrer »Hässlichkeit« zu verabscheuen, man kann aber bemängeln, dass sie nicht richtig funktionieren. Das Nike-Mannequin repräsentiert nicht nur ganz reale, normale Körper, die jedem von uns im Alltag begegnen – es ist auch die Antithese zum gesund ­lebenden, durch Ernährung, Bewegung und Selftracking optimierten Ich. Die Industrie der Selbstoptimierung suggeriert permanent, dass jeder Einzelne für das Entstehen und Beseitigen seiner körperlichen und seelischen Schwächen selbst verantwortlich sei, vorausgesetzt, Motivation, Selbstdisziplin und die richtigen Apps beziehungsweise die passenden Produkte sind vorhanden. Für diese Industrie sind Menschen, die mit Körpern wie dem des Londoner Nike-Mannequins ausgestattet sind, eine Bedrohung, weil sie für die Möglichkeit des Scheiterns stehen, und sind zugleich eine wichtige Zielgruppe. Denn auch sie sollen davon träumen dürfen, eines Tages wie die »normalen« Schaufensterpuppen auszusehen. ­Inklusion und body positivity können auf dem Weg dahin durchaus helfen. Die Frage ist, wem?

Mit dem Plus-Size-Mannequin hat Nike in erster Linie eine hervorragende Marketing-Entscheidung ­getroffen.

Unabhängig davon, was unter welchem Hashtag in Zusammenhang mit der Aktion im Londoner Geschäft diskutiert wird, der Kern der Sache ist: Mit dem Plus-Size-Mannequin hat der ­US-Konzern in erster Linie eine hervorragende Marketing-Entscheidung ­getroffen. »Um Diversität und Inklusion im Sport zu feiern, wird der neu ­geschaffene Platz nicht nur für visuelle Inhalte von angehenden und profes­sionellen Athletinnen genutzt. Nike zeigt auch erstmals Plus-Size- und Behindertensportschaufensterpuppen in einem Verkaufsraum«, schreibt Nike in einer Pressemitteilung zum Restyling des Londoner Ladens. Was unter »feiern« zu verstehen ist, verraten die Zahlen der vergangenen Tage. Seit der Debatte über die Konfektionsgröße des Mannequins sind die Suchanfragen nach »Nike« und »Plus Size« nach An­gaben des britischen Online-Händlers Love the Sales, der über 16 000 Marken listet, um 387 Prozent gestiegen. Die Zahl der Clicks auf die »Nike One Luxe Tights«, die Leggings, die auf dem Foto der Schaufenster­puppe zu sehen sind, ist um 200 Prozent gestiegen.

Das wäre mit rein positiver Resonanz vermutlich kaum möglich gewesen. Aber mit hilfreichen Shitstorms hat Nike Erfahrung. Das zeigte im ver­gangenen Jahr die Kampagne zum 30jährigen Jubiläum des bekannten Claims »Just Do It«, wofür Nike den Football-Spieler Colin Kaepernick als Werbefigur ausgewählt hatte. Der ­Konzern suchte sich nicht irgendeinen beliebigen Sportler aus, sondern einen mit einer bestimmten Haltung. Kaepernick, ehemaliger Quarterback der San Francisco 49ers, war 2016 der erste Football-Spieler gewesen, der aus Protest gegen rassistische Polizeigewalt in den USA beim Abspielen der Nationalhymne gekniet und nicht gestanden hatte. Zahlreiche weitere NFL-Profis machten es ihm nach.

Die »Kniefallproteste« der schwarzen Footballer lösten damals, mitten im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, eine heftige Debatte aus. Sogar Donald Trump mischte sich ein und nannte Kaepernick einen »Hurensohn«. Als Kaepernick, dem wegen seines Verhaltens nach Ende der Saison 2016/17 der Vertrag gekündigt wurde, im vergangenen Jahr auf den Nike-Plakaten zu sehen war, fielen die Reaktionen noch heftiger aus. Trump, der inzwischen Präsident geworden war, kritisierte die »furchtbare Botschaft« des Sportartikelherstellers als »unamerikanisch« und nannte sie eine »rückgratlose Kapitulation vor dem politisch korrekten, liberalen Mob«. Nutzer veröffentlichten unter dem Hashtag #NikeBoycott Fotos und Videos, auf denen zu sehen war, wie sie Nike-Schuhe und -Kleidungsstücke zerreißen und verbrennen. Das Resultat: Innerhalb einer Woche wuchsen die Onlineverkäufe von Nike um 31 Prozent, der Aktienkurs erreichte einen neuen Rekordwert.

Der Rasierapparatehersteller Gillette war der erste Konzern, der die #MeToo-­Debatte und das Thema toxische Maskulinität aufgriff und damit sein bis­heriges Image entsorgte.

Nike ist bei weitem nicht das einzige Unternehmen, das seine Produkte nicht mehr auf klassische Weise – nach dem Prinzip »Kauft meine Ware, weil sie gut ist« – bewirbt. Produkte stehen im storytelling der Werbebotschaften immer weniger im Vordergrund. Was zählt, ist die Marke, die sich als gesellschaftlicher Akteur inszeniert und durch ihre Stellungnahme zu den Fragen, die die Menschen bewegen, ihre ­Vision einer besseren Welt präsentiert. Der Rasierapparatehersteller Gillette war der erste Konzern, der Anfang des Jahres in einem Clip die #MeToo-­Debatte und das Thema toxische Maskulinität aufgriff und damit sein bis­heriges Image entsorgte, das ein durchaus stereotypes Männerbild vermittelte. Damit wagte es die Marke, ihre eigene Zielgruppe zu verprellen, denn was gibt es Männlicheres als einen bärtigen Mann? Auch in diesem Fall war die Entrüstung groß – wie jedes Mal, wenn männliches Verhalten als solches problematisiert wird. Man warf dem Unternehmen vor, Männer als »schlechte Menschen« darzustellen, wieder wurden Boykottaufrufe laut, trotzdem wurde der Clip auf Youtube 30 Millionen Mal angeklickt und auf allen Social-Media-Kanälen geteilt. Dass die neue Botschaft, trotz oder gerade aufgrund der Kritik den erwünschten Effekt hatte, zeigte Gillette vor einigen Wochen mit einem neuen Werbeclip, in dem die Kritik an Männlichkeitsbildern einen Schritt weitergeht: Pünktlich zu Beginn des Pride-Monats zeigt Gillette in ­einem neuen Spot, wie ein Vater seinem jungen Sohn bei der ersten Rasur liebevoll assistiert. Das Besondere dabei: Der Junge ist Transgender. »Hab keine Angst«, lautet die Botschaft des Vaters. Dass es hier um Rasierprodukte geht, spielt keine Rolle, jedenfalls nicht für den Zuschauer.

Marken, die in der derzeitigen Aufmerksamkeitsökonomie nicht untergehen wollen, müssen eine Art kommu­nikativen Mehrwert anbieten. In der digitalen Medienwelt und in Social ­Media sind Nutzer permanent Werbung ausgesetzt. Diese wird zudem immer stärker personalisiert und daher invasiver. Man hat gelernt, Werbebotschaften zu umgehen und auszublenden, jedenfalls, solange diese als Werbung ­erkennbar sind. Wenn aber die Werbebotschaft, wie bei Nike oder Gillette, hinter einem gesellschaftspolitischen Statement versteckt wird, nennt sich das »Haltung zeigen« und das kommt bei den potentiellen Kunden gut an. In den Marketing-Abteilungen von Unternehmen steht zwar die Geschäfts­bilanz und nicht die Rettung der liberalen Demokratie vor ihren Feinden im Mittelpunkt, aber wenn Nike seine Plus-Size-Kollektion an einem künstlichen Plus-Size-Körper zeigt, ist es nicht allein die konsequente Umsetzung einer Marketing-Strategie. Es ist auch der Versuch, sich einer Realität anzupassen, in der Konsumkritik immer mehr im Trend liegt und potentielle Kunden immer weniger nur als Konsumenten angesprochen werden möchten.