04.07.2019
Zur Politik des Cornerns

Das herumlungernde Subjekt

Das gemeinsame Abhängen an Straßenecken wird seit einigen Jahren zum revolutionären Akt stilisiert. Ist Herumlungern tatsächlich eine politische Praxis?

Seit dem Hamburger G20-Gipfel im Sommer 2017 ist der Begriff des Cornerns linksradikalen Gruppen lieb und teuer geworden. Als Alternative zu ­Demonstrationen und Straßenschlachten scheint es das Cornern zu einer neuen Protestform gebracht zu haben, eine spontane und vergleichsweise unkreative Form des zivilen Ungehorsams, die durchaus auch militant ­werden kann und als organisiertes Chaos, wie das Hamburger Beispiel zeigte, von der Staatsgewalt nur schwer in den Griff zu bekommen ist. Mit dem Aufruf zum Eckenstehen sollen Menschen mobilisiert werden, die die Sprache der Jugend sprechen und im besten Fall selbst jugendlich sind.

Das erinnert an die nuller Jahre, als die in den Marken Carhartt, New ­Balance und The North Face gekleidete Pop-Antifa auf professionell gestalteten Plakaten zu Demonstrationen lud, die musikalisch nicht mehr von Slime und den Scherben, sondern von Britney Spears und Beyoncé untermalt wurden. Später, zum Beispiel während der Ber­liner Proteste gegen das Investitionsprojekt Mediaspree, mutierten Demonstrationen zu wortkargen Technoparaden, von deren Wagen die Bässe bis in die auch von den Radikalinskis ignorierten Randbezirke schallten.

Räume, in ­denen man ohne Angst verschieden sein kann, bleiben Utopie.

Obwohl die Abkehr vom Hässlichen der Tradition zweifellos einen Fortschritt darstellte, mutete das ­Ankumpeln mittels popkultureller Referenzen oft peinlich an. Dem­entsprechend überschaubar war der Erfolg dieser »Strategie«. Einige der ­damals Agitierten schreibt heutzutage wahrscheinlich für die Jungle World, der Rest schneidet in Start-ups Stockfotos zu.

Dabei könnte nicht ohne Berechtigung behauptet werden, dass Cornern per se politisch sei. Wohlwollend ­betrachtet fordert es, auch als politische Praxis, die noch nicht zu sich selbst ­gekommen ist, alle drei Elemente ein, die Andrej Holm mit Henri Lefebvres Forderung nach einem sogenannten Recht auf Stadt assoziiert: das Recht auf Zentralität als Zugang zur städtischen Infrastruktur, das Recht auf ­Differenz im Sinne des Zusammenkommens und das Recht auf die schöpferischen Überschüsse des Urbanen, die in der kreativen Aneignung des öffentlichen Raums zugleich konsumiert und produziert werden.

Cornern hat gegenüber dem konventionellen Protest linker Gruppen und Bündnisse zweifellos den Vorzug, dass es nicht erst verordnet und in Forderungskatalogen festgehalten werden muss. Außerdem erweitert es den Blick der Bewegung über die Wohnungs­frage hinaus, der bereits Friedrich Engels zu borniert war.

Zu Beginn des modernen Kapitalismus war die Straßenecke noch das ­Reservat des Proletariats. »Als ich Ende November 1842 nach Manchester kam, standen noch überall eine Menge ­Arbeitsloser an den Straßenecken, und viele Fabriken standen noch still; in den nächsten Monaten bis Mitte 1843 verloren sich die unfreiwilligen Eckensteher allmählich, und die Fabriken kamen wieder in Betrieb«, schreibt ­Engels in »Zur Lage der arbeitenden ­Klassen in England«. Während den Überflüssigen in seiner Darstellung der englischen Straßenecke nur das Hökern oder Betteln blieb, zeichneten sich die Berliner Eckensteher dieser Zeit aus der Sicht des Humoristen Adolf Glaßbrenner durch »Müßiggang, Schnapstrinken und Prügeln« aus. Karl Liebknechts Sohn Robert verewigte die »Straßenecke« 1931 in einem expressionistischen Gemälde. Im selben Jahr erzählte der Dramatiker Hans Henny Jahnn in einem Stück von der titelgebenden Straßenecke als einem Ort des Zusammentreffens Ungleicher und Unfreier. Relikte des frühkapitalistischen Elends sind noch heute zu beobachten, auch und gerade an der Straßenecke.

Politischen Charakter hätte das Cornern darum als eine Art der Land­nahme herumlungernder Subjekte. Dem Soziologen Klaus Dörre zufolge und mit Rekurs auf Rosa Luxemburg basiert kapitalistische Entwicklung »auf Landnahmen, weil sie den Zwang zu erweiterter Reproduktion und damit zugleich ein expansives Verhältnis zu sozialen und Naturressourcen einschließt«. Die auf die Landnahme in einem Wechselspiel antwortende, ­gewöhnlich vom Staat gelenkte Landpreisgabe könnte im Hinblick aufs ­Cornern auch als Dekommodifizierung von unten gedeutet werden. Straßenecken wären, so gesehen, äußere Märkte, in denen das Äquivalenzprinzip nur eingeschränkt gilt, die aber von der kapitalistischen Dynamik der Einverleibung zugunsten des strukturell notwendigen Wachstums bedroht sind. Andersherum wären sie Zonen jenseits des Profitprinzips, die die Nutzer des Raums sich kontinuierlich erkämpfen und, einmal gewonnen, verteidigen müssen.

Theoretisch wird im Cornern für sich, also verstanden als selbstbewusster Vollzug, der gesellschaftlich vorangetriebenen Teilung in Zentrum und ­Peripherie sowie in Privatsphäre und Öffentlichkeit entgegearbeitet. Dass der Raum gegenwärtig einen enormen Informalisierungsschub erfährt, nimmt der Praxis jedoch den Stachel. Indem, wie der Architektursoziologe Herbert Schubert vor 20 Jahren schrieb, Hinterbühnenverhalten vermehrt auf der Vorderbühne stattfindet und das ­Intime immer mehrt in den öffentlichen Raum eindringt, geht der Raum seiner Kontrollfunktion verlustig. Der narzisstische Raum, so Schubert, sei heutzu­tage prinzipiell offen für alle sozialen Gruppen. Im Zuge seiner Festivalisierung werden die tendenziell widerständigen und nicht integrierbaren corner boys, über die schon der Soziologe William F. Whyte in den vierziger Jahren schrieb (Jungle World 25/2019), schließlich marginalisiert. Anstatt den Eckenstehern unentwegt mit Repressionen zu begegnen, dominieren zurzeit konsensuale Lösungen der Kriminalitätsprävention. Die Stadt identifiziert Problemzonen und experimentiert mit Maßnahmen zur Verbesserung der informellen Sozialkontrolle. Stadtplanung auf der Höhe der Zeit ist ein Versuch, eine Balance zwischen individueller Handlungs­autonomie und sozialer Ordnung herzustellen – und dessen notwendiges Scheitern. Räume, in ­denen man ohne Angst verschieden sein kann, bleiben Utopie.

Zur Kontrolle des Cornerns wird bereits im Zuge gewaltiger Bauprojekte eine Verknappung jenes Raums vorangetrieben, der dafür infrastrukturell geeignet ist.

Cornern im Kapitalismus ist voller Widersprüche. Es scheint sich, um in der Terminologie Lefebvres zu bleiben, in den anders gelebten als entworfenen Räumen der Repräsentation abzuspielen. Zugleich wird die Straßenecke, als eine spezifische Repräsentation des Raums, ideologisch hervorgebracht vom stadtplanerischen Dogma der Parzellierung und erst dadurch mit der lästigen Aufgabe konfrontiert, die dort vollzogenen, tendenziell ­anarchischen Praktiken zu absorbieren. Trotz der materiellen und sozialen ­Kosten duldet die Verwaltung das Cornern aufgrund seines Werts für das Stadtmarketing und weil man Touristen, Expats und Zugezogene nicht ­verprellen will. Es ist unwahrscheinlich, dass in Zukunft für diese Praxis reservierte Zonen eingerichtet werden, vergleichbar mit den Zonen in Österreichs Fußballstadien, in denen legal Pyrotechnik abgebrannt werden darf. Der jüngste, im neuen Tourismuskonzept des Bezirks Berlin-Pankow geäußerte, nach viel Kritik zunächst jedoch wieder zurückgezogene Vorschlag, Mauerpark-Touristen zur Kasse zu bitten, ­illustriert immerhin die Phantasien der hiesigen Politik.

Zur Kontrolle des Cornerns wird bereits im Zuge gewaltiger Bauprojekte eine Verknappung jenes Raums vorangetrieben, der dafür infrastrukturell geeignet ist. Vordergründig spekuliert man jedoch auf die Selbstdisziplinierung der spätkapitalistischen Subjekte, die noch im Versuch, sich gehen zu lassen, internalisierten Regeln Folge leisten. Auch wenn sie lautstark Smalltalk betreiben, bleiben sie unter diesen Umständen Benutzer, die sich im Sinne Lefebvres mit der vorherrschenden räumlichen Praxis identifizieren. Die Räume des Konsums, als die die Städte zuvorderst konzipiert werden, bedingen den Konsum der Räume, die, nur noch Bühnenbild des Kapitals, den Nutzer als Konsumenten inthronisieren, der souverän über das Warenangebot verfügt. Geht Cornern jedoch nicht über den Konsum des Raums hinaus, wird es wie der Tourismus zerstören, was es als Besonderheit begehrt. Wird Cornern dagegen kraftprotzend zum revolutionären Akt verklärt, droht nach dem Raum auch noch der Protest gegen seine Kommodifizierung zur Marke zu werden.