Die EU und die extreme Rechte

Querfront im Hinterzimmer

Die Nominierung Ursula von der Leyens zur Präsidentin der EU-Kommission ist das größte Zugeständnis, das die extreme Rechte je von der EU erhalten hat.

Wenn ein Politiker wie Manfred Weber (CSU) sich über »Hinterzimmer­gespräche und Nachtsitzungen« beklagt, wirkt das ein wenig kurios. Schließlich hat Weber das Spiel selbst nach diesen Regeln gespielt, so dass die Vermutung naheliegt, er fühle sich nur in seinem männlichen Stolz verletzt, weil ihm nun eine Frau den Posten wegschnappt, für den er so lange gearbeitet und intrigiert hat. Doch wird auch so etwas wie echtes Erstaunen spürbar, wenn Weber sich darüber echauffiert, dass »sich die Achse Macron und Orbán durchgesetzt« hat.

Gewählt mit den Stimmen der extremen Rechten, hätte die Kommissionspräsidentin und mit ihr die EU, vorsichtig ausgedrückt, ein Legitimitätsproblem.

Der französische Präsident Emmanuel Macron gilt als Initiator des Über­raschungscoups, mit dem der Europäische Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs der EU, seine Kandidatinnen und Kandidaten für die höchsten Ämter in der EU präsentiert hat. Anstelle Webers, des Spitzenkandidaten der EVP, des Bündnisses der konservativen Parteien, bei der Europawahl, soll die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) die Kommissionspräsidentschaft übernehmen. Für die Leitung der Europäischen Zentralbank ist die Französin Christine Lagarde vorgesehen, die der konservativen Partei Les Republicains angehört. Als EU-Außenbeauftragter wurde der spanische Sozialdemokrat Josep Borrell nominiert. »Der Iran will Israel auslöschen; das ist nichts Neues. Damit muss man leben«, sagte er im Februar dem Magazin Politico. Da es keine gemeinsame EU-Außenpolitik gibt, wird er aber nicht allzu viel Schaden anrichten können; auch über den Umgang mit dem Iran wird auf nationalstaatlicher Ebene entschieden.

Den Europäischen Rat leiten soll der liberale belgische Ministerpräsident Charles Michel. Er ist durch den flämisch-wallonischen Dauerkonflikt in seinem Land Kummer gewohnt und somit wohl qualifiziert dafür, zwischen den kaum weniger zerstrittenen Staats- und Regierungschefs der EU zu vermitteln, was seine vorrangige Aufgabe sein wird. Lagarde dürfte als versierte Technokratin der Aufgabe gewachsen sein, den deutschen Austeritätswahn auszubremsen, zumal sich sogar in Deutschland langsam etwas mehr ökonomischer Realitätssinn zeigt. Die Personalentscheidung, die der EU zumindest eine kurzfristige, und, wenn sie gewählt werden sollte, auch eine langfristige Krise bescheren dürfte, ist die Nominierung von der Leyens als Kommissionspräsidentin.

»Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommis­sion vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament«, legt Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union fest. Dies ist eine der zahlreichen vermeintlich pragmatischen Regelungen im Vertrag von Lissabon, zu dem neben dem Vertrag über die Europäische Union noch der wesentlich umfangreichere Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union gehört. Vereinbart in einer Zeit, als niemand vom »Brexit« sprach und kaum Rechtsextreme in den Parlamenten saßen, sollte er einerseits die zähen Verhandlungen über die immer gleichen Probleme beenden und ist deshalb in Fragen, die von der EU geregelt werden, recht detailliert. Andererseits sind insbesondere die Bestimmungen über die Machtverteilung vage ­gehalten. Man sah einerseits die Notwendigkeit, dem Europäischen Parlament etwas mehr Einfluss zuzugestehen; zu viel Macht – etwa ein Gesetz­gebungsrecht oder die Budgethoheit – sollte es aber auch nicht sein. Der ­Vertrag von Lissabon belässt die entscheidenden Befugnisse bei den ­Regierungen der Nationalstaaten, und dabei wird es wohl auch bleiben, denn schon ein einziger dieser Staaten kann eine Vertragsänderung blockieren. Damit hat die EU sich selbst weitgehend reformunfähig gemacht.

Macron kehrt er zur klassischen nationalstaatlichen Machtpolitik zurück: Die beiden stärksten EU-Staaten sollen die beiden wichtigsten Posten besetzen.

Auf welche Weise die Ergebnisse der Europawahlen »berücksichtigt« werden, liegt im Ermessen des Europäischen Rats. Den Kommissionspräsidenten aus den Reihen der Spitzenkandidaten der Fraktionen im Europaparlament zu wählen, wie es 2014 erstmals bei der Nominierung Jean-Claude Junckers praktiziert wurde, schien eine sinnvolle Regelung zu sein. Schließlich kann das Parlament den Kandidaten des Rats durchfallen lassen. In Anlehnung an parlamentarische Gepflogenheiten bei der Regierungsbildung liegt es nahe, zunächst den Kandidaten der stärksten Fraktion aufzustellen, Manfred Weber von der EVP, auch wenn diese weniger als ein Viertel der Abgeordneten hat. Zeichnet sich ab, dass dieser Kandidat nicht die Unterstützung der Mehrheit der Parlamentsabgeordneten hat, wäre der Kandidat der zweitstärksten Fraktion an der Reihe, der niederlän­dische Sozialdemokrat Frans Timmermans, derzeit Vizepräsident der EU-Kommission. Man hätte es auch mit einer Kandidatin der Mitte versuchen können, der dänischen Liberalen Margrethe Vestager, die als Wettbewerbskommissarin mit einer in der EU-Politik ungewöhnlichen Entschlossenheit ­gegen die Steuervermeidungstricks von Großkonzernen vorgegangen ist.

So viel Strenge bei der Anwendung von Gesetzen gegen Unternehmen aber ist womöglich nicht überall gefragt. Dass Vestager die Fusion von Siemens und dem französischen Konzern Alstom verhinderte, nur weil diese den EU-Wettbewerbsregeln widersprach, hat sie im politischen Establishment beider Länder unbeliebt gemacht. ­Timmermans hat sich immer wieder für ein konsequentes Vorgehen der EU gegen die Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien durch Mitgliedsstaaten eingesetzt. Deshalb war er für die Regierungen Ungarns, Polens und Italiens inakzeptabel.

Was über den Hintergrund der Nominierung von der Leyens kolportiert wird, ist nicht überprüfbar, dürfte aber im Kern zutreffen. Die deutsche Kanz­lerin Angela Merkel soll sich für Timmermans eingesetzt, aber keine aus­reichende Unterstützung gefunden ­haben. Macron habe dann mit Unterstützung der Visegrád-Gruppe (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei) sowie Italiens seine Personalvorstellungen durchgesetzt. Merkel schloss sich Macrons Haltung an, obwohl es möglich gewesen wäre, eine qualifizierte Mehrheit (55 Prozent der Mitgliedstaaten, die mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU vertreten) für eine andere Lösung zu erhalten.

Man kann verstehen, dass Weber verblüfft ist. An sich war er, der sich erst im letztmöglichen Moment und zweifellos im Hinblick auf seine Kandidatur für die Kommissionspräsidentschaft gegen die Partei Fidesz des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán gewandt hatte, weitaus verdächtiger, der populistischen und extremen Rechten entgegenzukommen als von der Leyen, die als liberal-konservative »Merkelianerin« galt. Man hat zwar gewusst, dass auf Konservative bei der Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten kein Verlass ist, ist aber auch als Linker erstaunt über diese Vereinbarung, die zahlreiche Fragen aufwirft.

Die Kommissionspräsidentschaft ist kein Regierungsamt, aber weit mehr als ein Verwaltungsposten. Von der Leyen hätte die Möglichkeit, eigene Initiativen in der EU-Politik zu ergreifen, und sie hat erheblichen Einfluss darauf, ob und wie die Regeln der EU ­angewendet werden. Die Zustimmung Italiens und Ungarns im Rat bedeutet, dass die Abgeordneten der regierenden Parteien angehalten werden, für von der Leyen stimmen. Das Stimmverhalten in den anderen Fraktionen ist kaum vorhersehbar, da hier nationale Interessen eine Rolle spielen und die Parteienbündnisse sehr heterogen sind – kaum vorstellbar etwa, dass Vestager in der FDP Karriere gemacht hätte. Gewählt mit den Stimmen der extremen Rechten, und erst recht wenn nur diese ihr zur Mehrheit verhelfen, hätte die Kommissionspräsidentin und mit ihr die EU, vorsichtig ausgedrückt, ein Legitimitätsproblem. Überdies muss man davon ausgehen, dass es Zusagen an die Visegrád-Gruppe und Italien gab, um sie für eine Kandidatin zu gewinnen, die bislang nicht durch Avancen an Rechtsnationalisten aufgefallen ist.

Das wirft eine weitere Frage auf: Was hat Macron sich dabei gedacht? 2017 führte er einen proeuropäischen Wahlkampf, seine Vorschläge für relativ weitreichende EU-Reformen sind von Deutschland konsequent ignoriert worden. Nun kehrt er zur klassischen nationalstaatlichen Machtpolitik zurück: Die beiden stärksten EU-Staaten sollen die beiden wichtigsten Posten besetzen. Die im Hinterzimmer gebildete Querfront in Personalfragen ist zwar wohl keine Entscheidung Macrons für eine strategische Zusammenarbeit, aber bei der Nominierung der Kommissionspräsidentin mitwirken zu dürfen, ist das bedeutendste Zugeständnis, das die extreme Rechte in der EU jemals erhalten hat. Offenbar glaubt Macron, nur durch solche Kompromisse die EU zusammenhalten und eine Blockadepolitik der Rechtsnationalisten verhindern zu können. Die Geschichte hat jedoch immer wieder gezeigt, dass die Vorstellung, man könne die extreme Rechte durch Zugeständnisse einhegen, ein fataler Irrglaube ist.