Nachfahren geflüchteter Juden

»Geplapper über historische Verantwortung«

Seite 2 – »Verlängerung des NS-Unrechts«
Interview Von

Es geht an dieser Stelle also die heutige Rechtspraxis auf die nationalsozialistischen Rassenge­setze zurück?
Ja, sie müssen das zum Teil der Gesetzeslage nach so machen, aber das deutet natürlich auf ein tieferliegendes Problem hin. Die Bundesregierung hätte schon vor Jahrzehnten die Probleme mit Artikel 116 abschaffen müssen, in dem sie beispielsweise entsprechende Verwaltungsvorschriften für die Ermessenseinbürgerung erlässt, oder einen neuen Paragraphen im Staatsangehörigkeitsrecht einfügt, der allen Abkömmlingen von Verfolgten des NS-Regimes einen Einbürgerungsanspruch gewährt, unabhängig von der zum Zeitpunkt ihrer Geburt geltenden Rechtslage. Ich habe viel im Bundesarchiv Koblenz zur Rechtsgeschichte um den Artikel 116 geforscht, und der rein juristische Gedankengang hinter solchen Urteilen wie dem des Bundesverwaltungsgerichts von 1983 wird dann durchaus nachvollziehbar. Das Problem ist eher, dass die Bundesregierung diese Urteile seit Jahrzehnten als Ausrede dafür benutzt, nicht selbst tätig werden zu müssen und den Bedürfnissen der Betroffenen nachzukommen. Man liest andauernd: »Wir sind bereit, auf ein Revisionsurteil zu warten, dass diese Frage klären wird«, oder dergleichen.

Heißt das, die Regierung erkennt das Problem immer nur als ein rechtliches an, nicht als ein politisches?
Ja. Sie sehen, dass das politisch eine schwierige Frage sein könnte, und deswegen bevorzugen sie eine rechtliche Behandlung, weil sie dann die Verantwortung dafür nicht tragen müssen. Es heißt immer, das Gericht habe so und so entschieden, darum könne man da nichts machen. Verschwiegen wird dabei aber, dass es ja die Bundesregierung selbst ist, die etwa die Mindestvoraussetzungen von Ermessenseinbürgerungen und derartige Verwaltungsvorschriften setzt. Und ich glaube, das ist hier der Punkt: Wir haben eine ziemlich komplexe Rechtslage, aber wir haben auch eine Regierung, die über die souveräne Macht zur Setzung anderer Maßstäbe verfügt.

Was müssten Politik und Verwaltung heute tun, um den Forderungen der Group zu entsprechen?
Einen Einbürgerungsanspruch für alle Nachfahren der Verfolgten des NS-Regimes gewähren, durch einen zusätzlichen Paragraphen im Staatsangehörigkeitsrechts. Das wird wahrscheinlich nicht passieren, sie werden wohl §14 des Staatsange­hörigkeitsrechts benutzen, um neue und hoffentlich bessere Maßstäbe für Ermessenseinbürgerungen zu setzen, aber dabei ist man immer noch der Willkür des Sachbearbeiters ausgesetzt und es begründet keinen rechtlichen Anspruch. Gegen eine Ablehnung auf dieser Grundlage juristisch anzukämpfen ist äußerst schwer. Ersteres wäre also das Idealergebnis.

Können Sie etwas zu den persönlichen Motivationen sagen, die hinter diesen Entscheidungen stehen, nach einer oder zwei Generationen die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen?
Es hat wahrscheinlich bei vielen ­angefangen als pragmatische Reaktion auf den »Brexit«, aber wenn man dann herausfindet, dass man aus diesen vollkommen bekloppten Gründen ausgeschlossen ist, dann weckt das die ganzen Erinnerungen an die schlechte Behandlung durch den deutschen Staat. Und dann wird das zu einem Symbol dafür, wie die eigene Familie von den Nazis misshandelt worden ist, und es wird als Verlängerung des NS-Unrechts empfunden, was es zum Teil auch ist. Es gibt dieses ganze symbolische Geplapper von wegen historischer Verantwortung und Gedenken, aber ­sobald es um materielle Ansprüche geht, dann gehen die Mauern hoch und es wird in nichts nachgegeben, bis die Gefahr besteht, es könnte in der Öffentlichkeit schlecht aus­sehen.
Für mich ist es mittlerweile eher wichtiger, dass diese ganzen Versäumnisse ans Licht kommen und geändert werden, als dass ich entspannt nach Frankreich in den Urlaub fahren kann. Vielleicht ist das für andere Leute nicht der Fall, die wollen vielleicht einfach wohnen können, wo sie möchten, und diesen Anspruch sollten sie auch haben. Es gab auch Reaktionen von Leuten im Internet, wo es hieß, wir seien »opportunistische Wirtschaftsflüchtlinge« oder sowas. Und da denke ich mir, wie opportunistisch waren denn ihre Großeltern, als sie den ganzen Besitz von meiner Familie gekauft haben, nachdem er von der Gestapo beschlagnahmt wurde? Was für ­Möbel stehen in eurem Haus? Das sind einfach Sachen, die die deutschen Durchschnittsbürger nicht bedenken möchten. Und die deutschen Beamten auch nicht. Das Bundes­innenministerium sitzt in einem Gebäude, das vor der Enteignung einem Juden gehörte.
Um es kurz zu fassen: Einige haben über ihre Familiengeschichte eine Bindung zur deutschen Kultur wiederentdeckt, für andere ist es ein Mischung aus pragmatischen Gründen, und – auch nicht zu vernachlässigen: Wut. Ich glaube, Wut ist eine omnipräsente Emotion bei dieser Angelegenheit, und es ist für mich nicht nachvollziehbar, dass die Bundesregierung unsere Wut nicht versteht.