Das Reich der Freiheit beginnt nach Ladenschluss

Karl Marx im Späti

Seite 2 – Spätibetreiber werden kreativ

Andere werden kreativer: Ein Späti in Friedrichshain verkauft seit Kurzem eine abstoßende Menge an Touristenandenken, denn – logisch – Verkaufsstellen, die »touristischen Bedarf« vertreiben, dürfen sonntags öffnen. Kein Berlin-Tourist soll am Sonntag auf seinen Brandenburger-Tor-Kühlschrankmagneten verzichten müssen. Und wer sie kennt, die Touristen, der weiß: An einem sonnigen Wochenendtag suchen sie nie nach Getränken, Zigaretten oder Tampons, sondern nach Postkarten, Wimpeln und Winkekatzen.

Wer gerne feiert, fürchtet den Verlust der Kulturtechnik »öffentliches Saufen«, die in Reiseführern als einzigartiges Berlin-Erlebnis angepriesen wird.

Damit nicht genug: Es soll Spätis geben, die nur öffnen, wenn man sich vor sie stellt und klopft oder ein ­geheimes Codewort ruft. »Saufen!« etwa, oder: »Tanken!« Andere Kioske versuchen, sich schnell zur realen Tankstelle umzuschummeln, indem sie eine Steckdose am Laden anbringen – und damit aufgrund der gesetzlich geschützten Notwendigkeit, sein E-Bike am Sonntag laden zu können, öffnen dürfen. So viel steht nämlich fest: Der Deutsche will jederzeit sein Gefährt befüllen, nicht aber seinen Schlund. Wer am Sonntag saufen möchte, soll gefälligst in ein entsprechendes Etablissement einkehren oder vorsorglich den Kühlschrank vollstopfen. Natürlich ließe sich auch bestellen: »MySpäti« heißt zynischerweise eine App, die derzeit in Berlin groß beworben wird. Damit lassen sich klassische Artikel eines Spätkaufs nach Hause liefern. Der Markt wittert seine Chance und man spürt förmlich, wie die Spätihändler in der niemals ruhenden Hauptstadt aufatmen, weil sie nun endlich einen Tag weniger zum Verdienst genötigt werden, der ihnen am Monatsende empfindlich fehlen wird.

Sorge bereitet Kritikern des Sonntagsöffnungsverbots nicht etwa die ökonomische Situation der Späti­betreiber, die nicht selten im Alleingang täglich zwölf Stunden und länger die Partyhauptstadt mit Konsumgütern versorgen, wofür sich die Feiernden bedanken, indem sie selbige nicht selten vor den Läden unfreiwillig wiederkäuen. Sorge bereitet ihnen der Verlust der Kulturtechnik »öffentliches Saufen«, das nicht zuletzt in so manchem Tourismusratgeber als einzigartiges Berlin-Erlebnis angepriesen wird. Wer den Spätkauf nicht direkt nötig hat, bangt um die »Kiezkultur«.