Eine Kulturgeschichte der Mauer

Gute Mauern, schlechte Mauern

Seite 4 – Suche nach Identität

Als Schnittstelle zwischen Natur und Kultur erfüllen Mauern elementare Zwecke. In der Gegenwart werden ihre Aufgaben zunehmend von digitalen Kontroll- und Überwachungssystemen übernommen. Die Mauern der Spätmoderne sind der unmittelbaren Wahrnehmung entzogen. Mauern eröffnen Möglichkeitsräume und schränken diese ein. Die Wiederkehr der Mauer als Grenzbastion in Zeiten der globalen Migration ist nicht zufällig. Unübersichtliche Situationen und Identitätskrisen lassen Mauern und Dämme als probates Mittel erscheinen, Komplexität durch Aussperren zu reduzieren.

Hafenmauer im portugiesischen Sagres.

Bild:
picture alliance / Westend61

In »Gated Communities« suchen die Angehörigen der Oberschicht den selbst gewählten Hochsicherheitseinschluss. Fremde haben nur auf Einladung oder mit Voranmeldung Zutritt, die soziale Realität muss draußen bleiben. In Kalifornien werden 40 Prozent der neuen Wohnhäuser in solchen Anlagen errichtet. Die Anlage »Arcadia« in Potsdam gilt als erste »Gated Community« in Deutschland. Das Gegenstück zum Park der Reichen bildet die Ghetto­isierung der Missliebigen. Unfreiwillig Eingeschlossene gibt es bis heute: In Padua schloss man 2006 kurzzeitig eine von überwiegend ­afrikanischen Migranten bewohnte Siedlung mit einer Stahlmauer ein – vorgeblich, um den Drogenhandel zu unterbinden. In osteuropäischen Staaten wurden mehrfach Sinti- und Roma-Quartiere durch Mauern abgegrenzt.

Die Grenzziehung mit Steinen befriedigt das Schutzbedürfnis, ist aber auch Ausdruck der Suche nach Identität; und sei es nur, um seinen Garten von der Pflanzkultur des Nachbarn abzugrenzen. Mauern zementieren Unterschiede und stecken (Kultur-)Räume ab – und können sich doch nicht auf Dauer halten. Veränderung ist ein Faktor der Geschichte, die voll von geschleiften Bollwerken ist.