Eine Kulturgeschichte der Mauer

Gute Mauern, schlechte Mauern

Seite 5 – Der Mythos »Chinesische Mauer«

Das kann man auch am Mythos »Chinesische Mauer« ­sehen. Denn eine solche hat es nie als 2.000 Jahre alten und 6.000 Kilometer langen geschlossenen Verteidigungswall gegeben. Die Große Mauer besteht aus unzähligen Teilstücken und Wällen, die man erst später als zusammenhängendes Bauwerk interpretierte. Das Titanenwerk konnte das Land nicht vor mehrfacher »Fremdherrschaft« bewahren. Nach Maos Kulturrevolution wurde die Mauer zum Zeugnis nationaler Leistungsfähigkeit wie Ausdruck der Abschottungspolitik, sie ist noch heute Objekt von Projektionen. Übrigens kann man sie vom Weltall aus nicht sehen – das musste 2003 der erste chinesische Astronaut nach seinem Flug berichten.

Chinesische Mauer bei Mutianyu.

Bild:
mauritius images / Sabrina Larcher

Eine chinesische Mauer, die einen guten Zweck erfüllt, ist das Aufforstungsprojekt »Grünes China«, es soll Wüstenstürme zurückhalten. Für diesen organischen Schutzwall werden Bäume und Büsche auf einer Fläche so groß wie Deutschland gepflanzt. Auch der australische Dingozaun schützt Tiere: Das mit einer Länge von 5.412 Kilometer längste Bauwerk der Welt bewahrt Schafherden vor Raubtieren.

Während sich zum Beispiel auch das zweite Persische Großreich mit der »Rote Schlange« genannten Mauer vom Kaspischen Meer nach Osten hin einigelte, kamen andere Imperien ohne solche Sperranlagen aus. Großflächige Landschaftstrennungen etwa kannte man im antiken Griechenland kaum. Man grenzte sich kulturell von den »Barbaren« – das waren wertneutral erst einmal alle Nichtgriechen – ab, baute ummaurte Städte in ihren Gebieten, dachte aber nicht daran, sich räumlich abzuschotten.