Die Gedächtniszeit ist vorbei

Shoah und Schablone

Seite 5 – »Universalisierung des Holocaust«

In dem Maße, in dem sich die Rede von verschiedenen kulturellen Blickwinkeln, Perspektiven, Erzählungen an den Universi­täten, im Feuilleton und in der Alltagskonversation durchgesetzt hat, schien sich das gerade erst entstan­dene Bewusstsein vom universellen Charakter der Massenvernichtung wieder zurückzubilden. Der Holocaust erschien als Angelegenheit des Westens, ihm wurden zahlreiche Verbrechen außerhalb Europas zur Seite gestellt.

Unterstützung erhält diese Relativierung jedoch längst von Vertretern einer universalistischen Weltsicht. Mehr noch, die heftigsten Angriffe kommen inzwischen von dort. Die Chiffre lautet »Universalisierung des Holocaust«. Was darunter zu verstehen ist, wurde kürzlich in einem Offenen Brief an das United States Holocaust Memorial Museum deutlich. Die Museumleitung hatte sich gegen die Gleichsetzung von detention camps und Konzentrationslagern ausgesprochen. Daraufhin wurde sie von zahlreichen Intellektuellen kritisiert. In ihrem Offenen Brief heißt es, dass es das Kernstück der »Holocaust-Erziehung« sei, die Öffentlichkeit auf »gefährliche Entwicklungen aufmerksam zu machen, die Menschenrechtsverletzungen und Schmerz und Leid ermöglichen«.

Warum ein Hinweis auf Auschwitz nötig sein soll, um gegen Menschenrechtsverletzungen, Schmerz und Leid vorzugehen, verraten die Autoren nicht. Sie tragen stattdessen zur allgemeinen Begriffslosigkeit bei. Der Holocaust wird zur bloßen Chiffre für jede Art von Verfolgung und Diskriminierung. Damit verliert die Vernichtung der europäischen Juden ihre historische Dimension; der räumliche und zeitliche Kontext, die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, aber auch die Täter und Opfer werden unkenntlich. Auch der Blick auf aktuelle Entwicklungen wird verstellt. Denn wo die Vergangenheit nur als Schablone benutzt wird, gehen die Besonderheiten der Gegenwart verloren. Die »Sauce des Allgemeinen« steht wieder bereit.