Polizeigewalt in Frankreich

»Dreckige Linksradikale«

Seite 2 – »Wo ist ist Steve?«

Wochenlang gab es in Frankreich eine große, aufsehenerregende Öffentlichkeitskampagne unter dem Motto: »Wo ist ist Steve?« Am Montag vergangener Woche wurde seine Leiche geborgen, die nur noch durch Fingerabdrücke und später per DNA-Analyse identifiziert werden konnte. Am selben Tag stellte Premierminister Edouard Philippe persönlich den Untersuchungsbericht der IGPN vor – den Worten der Anwältin von Caniços Familie zufolge macht dies den Fall zu einer »Staats­affäre«. Die IGPN ist gegenüber der Polizeidirektion nicht weisungsgebunden, untersteht jedoch dem Innenministerium. In ihrem Bericht behauptet sie, es gebe »keinen nachweisbaren Zusammenhang zwischen dem Polizeieinsatz und dem Tod von Steve Caniço«.

Nun stellte sich jedoch heraus, dass die IGPN keinen einzigen der 89 beim Festival Anwesenden, die Strafanzeige gegen die Polizei erstattet hatten, ­vernommen hat. Und ein Augenzeuge tauchte auf, der sich der IGPN schriftlich zur Verfügung gestellt hatte, aber nicht angehört wurde. Die Institution behauptet, ihm eine E-Mail geschickt zu haben, was dieser bestreitet. Der Zeuge äußerte sich in einem Gespräch mit Le Monde. Die IGPN hatte ausschließlich Angehörige der Polizei als Zeugen angehört.

Mittlerweile hat die IGPN ihre Einschätzung relativiert. Ihre Leiterin, ­Brigitte Jullien, die sich zum ersten Mal überhaupt in solcher Form an die Öffentlichkeit wandte, sagte in einem Interview mit der Tageszeitung Libéra­tion, das am Montag erschien, man habe keinen nachweisbaren Zusammenhang zwischen dem Polizeieinsatz und Caniços Tod gesehen – aber dass es keinen gebe, behaupte man nicht.

Unterdessen hat der Premierminister eine andere Aufsichtsbehörde, die Allgemeine Verwaltungsinspektion (IGA), mit einer »weiterführenden Untersuchung« beauftragt. Ein Teil der Opposition fordert einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Thema. Das lehnt die Regierungspartei LREM bislang ab.

Mittlerweile wurden einzelne Beamte identifiziert – in diesem Fall der Gendarmerie, die ähnliche Aufgaben wie die Polizei wahrnimmt, jedoch dem Verteidigungsministerium untersteht –, die sich in sozialen Medien über den Tod des jungen Mannes lustig gemacht hatten. Einem von ihnen wurde eine Vorladung zu einem dienstrechtlichen Disziplinarverfahren zu­gestellt.

Der Einsatzleiter in der fraglichen Nacht, Grégoire Chassaing, ist für sein autoritäres Vorgehen und seine Nähe zum rechtsextremen Milieu berüchtigt. Die ihm unterstellten Polizisten sollen die Partygäste unter anderem als »dreckige Linksradikale« beschimpft haben. Auf der Musikbühne war zuvor der aus den neunziger Jahren stammende Punk-Hit »Die Jugend scheißt auf den Front National« gespielt worden. Selbst die Polizeigwerkschaft SGP-FO wirft dem Einsatzleiter in einem Kommuniqué »schweres Fehlverhalten« vor.