Polizeigewalt in Frankreich

»Dreckige Linksradikale«

In Frankreich haben Polizisten auf einem Technofestival junge Menschen niedergeknüppelt, ein Partybesucher kam dabei ums Leben. Spielten rechtsextreme Motive eine Rolle?

»Wo ist Steve?« fragten die Demons­trierenden immer wieder, auf Schildern, Aufklebern oder in Sprechchören. »Auf dem Grund der Loire«, entgegnete so mancher Polizist zynisch. Mit Steve ist der 24jährige Steve Maia Caniço gemeint, der in der Nacht vom 21. auf den 22. Juni nach einem Polizeieinsatz in der Loire ertrank. Längst nennen ihn in Frankreich selbst bürgerliche Medien nur noch bei seinem Vornamen, wie die Tausenden jungen Menschen, die wegen seines Todes seit Wochen protestieren, so auch am Wochenende.

Der Einsatzleiter in der fraglichen Nacht ist für seine Nähe zum rechtsextremen Milieu berüchtigt.

Ihnen geht es nicht nur um Aufklärung der genauen Todesumstände, sondern auch allgemein darum, gegen Polizeigewalt zu demonstrieren. An Montag wurde bekannt, dass die Allgemeine Inspektion der nationalen Polizei (IGPN), die für Verfehlungen von Angehörigen der Ordnungsorgane zuständig ist, in 288 Fällen wegen mutmaßlicher außergesetzlicher Gewaltanwendung durch die Polizei im Zusammenhang mit den seit November stattfindenden Protesten der »Gelbwesten« ermittelt.

Caniço war in Nantes als Betreuer an einer Grundschule angestellt, Theatermacher und Technofan. Während der Fête de la musique in der Nacht vom 21. zum 22. Juni, die keinen Eintritt kostet, fand auf der Loire-Insel von Nantes ein Technofestival statt. Die Insel besteht zu großen Teilen aus einem Erlebnispark auf einem früheren Werftgelände, umgeben von dem an dieser Stelle über 100 Meter breiten Fluss.

Die Betreiber einer der acht Bühnen wollten trotz polizeilicher Aufforderung ihre Musik nicht zum vorgesehenen Zeitpunkt gegen vier Uhr morgens ausmachen beziehungsweise schalteten sie kurz aus und dann wieder ein. Daraufhin ging die Polizei gegen 4.30 Uhr mit Knüppeln, Tränen- und Reizgas gegen die Besucher vor. Hinter der zurückgedrängten Menge befand sich das offen zugängliche Ufer der Loire, deren Strömung an dieser Stelle sehr stark ist. Wie aus Videos des Geschehens hervorgeht – die Tages­zeitung Libération hat mehrere auf ihrer Website zusammengestellt –, riefen Anwesende mehrfach: »Da hinten ist Wasser« und »Gefahr, da liegen Leute im Wasser«. Mindestens 14 Personen mussten sich aus dem Fluss retten. Doch Caniço konnte nicht schwimmen; er galt zunächst als vermisst.

»Wo ist ist Steve?«

Wochenlang gab es in Frankreich eine große, aufsehenerregende Öffentlichkeitskampagne unter dem Motto: »Wo ist ist Steve?« Am Montag vergangener Woche wurde seine Leiche geborgen, die nur noch durch Fingerabdrücke und später per DNA-Analyse identifiziert werden konnte. Am selben Tag stellte Premierminister Edouard Philippe persönlich den Untersuchungsbericht der IGPN vor – den Worten der Anwältin von Caniços Familie zufolge macht dies den Fall zu einer »Staats­affäre«. Die IGPN ist gegenüber der Polizeidirektion nicht weisungsgebunden, untersteht jedoch dem Innenministerium. In ihrem Bericht behauptet sie, es gebe »keinen nachweisbaren Zusammenhang zwischen dem Polizeieinsatz und dem Tod von Steve Caniço«.

Nun stellte sich jedoch heraus, dass die IGPN keinen einzigen der 89 beim Festival Anwesenden, die Strafanzeige gegen die Polizei erstattet hatten, ­vernommen hat. Und ein Augenzeuge tauchte auf, der sich der IGPN schriftlich zur Verfügung gestellt hatte, aber nicht angehört wurde. Die Institution behauptet, ihm eine E-Mail geschickt zu haben, was dieser bestreitet. Der Zeuge äußerte sich in einem Gespräch mit Le Monde. Die IGPN hatte ausschließlich Angehörige der Polizei als Zeugen angehört.

Mittlerweile hat die IGPN ihre Einschätzung relativiert. Ihre Leiterin, ­Brigitte Jullien, die sich zum ersten Mal überhaupt in solcher Form an die Öffentlichkeit wandte, sagte in einem Interview mit der Tageszeitung Libéra­tion, das am Montag erschien, man habe keinen nachweisbaren Zusammenhang zwischen dem Polizeieinsatz und Caniços Tod gesehen – aber dass es keinen gebe, behaupte man nicht.

Unterdessen hat der Premierminister eine andere Aufsichtsbehörde, die Allgemeine Verwaltungsinspektion (IGA), mit einer »weiterführenden Untersuchung« beauftragt. Ein Teil der Opposition fordert einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Thema. Das lehnt die Regierungspartei LREM bislang ab.

Mittlerweile wurden einzelne Beamte identifiziert – in diesem Fall der Gendarmerie, die ähnliche Aufgaben wie die Polizei wahrnimmt, jedoch dem Verteidigungsministerium untersteht –, die sich in sozialen Medien über den Tod des jungen Mannes lustig gemacht hatten. Einem von ihnen wurde eine Vorladung zu einem dienstrechtlichen Disziplinarverfahren zu­gestellt.

Der Einsatzleiter in der fraglichen Nacht, Grégoire Chassaing, ist für sein autoritäres Vorgehen und seine Nähe zum rechtsextremen Milieu berüchtigt. Die ihm unterstellten Polizisten sollen die Partygäste unter anderem als »dreckige Linksradikale« beschimpft haben. Auf der Musikbühne war zuvor der aus den neunziger Jahren stammende Punk-Hit »Die Jugend scheißt auf den Front National« gespielt worden. Selbst die Polizeigwerkschaft SGP-FO wirft dem Einsatzleiter in einem Kommuniqué »schweres Fehlverhalten« vor.