Die gesammelten Schriften Otto Kirchheimers

Freiheit und Verfassung

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Nach ihrer Flucht vor dem nationalsozialistischen Terror wurden sie ab 1933 Teil eines intellektuellen Zirkels, der ihnen mehr oder weniger stark ausgeprägte Unterstützung in finanzieller und wissenschaftlicher Hinsicht bot. Das – überwiegend aus Männern bestehende – Netzwerk sollte sowohl die Politikwissenschaft in den USA als auch in Deutschland nach 1945 dauerhaft prägen. Aus dem Kreis der drei genannten Juristen waren es Kirchheimer und Neumann, die als Rechts- und Demokratietheoretiker dem ehemaligen Frankfurter Institut für Sozialforschung verbunden ­waren und in den Jahren zwischen 1933 und 1945 in Kontakt mit Max Horkheimer und Theodor W. Adorno standen. In dieser Zeit setzt der nun vorliegende zweite Band der ge­sammelten Schriften Kirchheimers ein.

»Authority of Law«, Statue des Obersten Gerichsthofes der USA in Washington, D.C.

Bild:
mauritius images/Boris Suvak/Alamy

Die Beiträge variieren sowohl ­inhaltlich als auch stilistisch stark und lassen sich grob in drei Kate­gorien einteilen. Neben Rezensionen, die Stationen in Kirchheimers politischer Entwicklung markieren, sind an zweiter Stelle die rechts- und ideengeschichtlichen Abhandlungen zu nennen, darunter etwa »Die Geschichte des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten von Amerika« oder »Die Anmerkungen zur Theorie der nationalen Souveränität in Deutschland und Frankreich« (beide 1934). Darüber hinaus befasste Kirchheimer sich intensiv mit der juristischen Dimension der nationalsozialistischen Herrschaft, womit die dritte Kategorie bezeichnet ist: ­Unter dem Pseudonym Hermann Seitz veröffentlichte er im Jahr 1935 den Aufsatz »Staatsgefüge und Recht des Dritten Reiches«. Damit wandte sich Kirchheimer an »Richter und Rechtsanwälte«, die, so seine Hoffnung, »mit wachsenden inneren Hemmungen an dieser Justiz« mitwirkten. Die Schrift kann als Abrechnung mit der dezisionistischen Staats- und Rechtstheorie Carl Schmitts gelten, bei dem Kirchheimer 1928 seine Dissertation mit dem ­Titel »Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus« verfasst hatte.

In dieser Zeit fand Kirchheimer auch Anschluss an das Institut für ­Sozialforschung, das 1934 von Horkheimer zunächst mit Zweigstellen in Paris, London und schließlich in die USA umgesiedelt worden war. In dem Zusammenhang erweisen sich die »Thesen zu Max Horkheimers Manuskript ›Autoritärer Staat‹« (1940) und der Aufsatz über den »Strukturwandel des politischen Kompromisses« (1941) als besonders aufschlussreich. Ähnlich wie Horkheimer orientierte Kirchheimer sich ­zunächst noch stark an der ideengeschichtlichen Linie des traditionellen Marxismus. Danach galten die Kategorien, die Karl Marx in den drei Bänden des Kapital entwickelt, nicht als dialektisch-logische, sondern im Sinne des »Marxismus-Engelsismus« (Ingo Elbe) als historisch-­logische Abfolge der kapitalistischen Entwicklungsgeschichte. In seinen kurz gefassten Thesen zum autoritären Staat griff Kirchheimer dementsprechend die von Friedrich Pollock prominent vertretene These vom Staatskapitalismus auf.