Das deutsche Bürgertum und die AfD

Die rohen Seiten der Bourgeoisie

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Gerade unter Gauland wurde die AfD zur Partei des »Volkszorns«. Solange der Vorsitzende »Halb-, Viertel- und Neonazis in der AfD« dulde, könne sie keine »bürgerliche Partei« sein, antwortete Ulf Poschardt in der Welt auf Gaulands Beitrag. Dass historisch ge­sehen die Gegensätze zwischen Nationalsozialisten und Teilen des Bürgertums rasch überwunden wurden, wird so verdrängt. Gaulands politische Allianz mit Björn Höckes »Flügel« zeigt, welche Bündnisse zwischen Nationalkonservativen und völkischen Rechten heutzutage möglich sind.

Herausgefordert und konterkarriert wird das Selbstbild der AfD als bürger­liche Partei derzeit auf einer weniger beachteten Ebene. Denn die spätestens seit 2016 zu verzeichnende Wahlzustimmung für die einstige Honoratiorenpartei gerade bei Lohnabhängigen und Arbeitslosen zeigt, dass die AfD nicht nur bei jenen auf Zustimmung hoffen kann, die sich als ihres eigenen Glückes Schmied gefallen. Wenn Gauland zurzeit mit Sentenzen wie »Bürgerlich denken heißt, in Rangordnungen zu denken« an die Öffentlichkeit drängt, muss er solche Positionen im »ent­bürgerlichten Osten« besonders begründen. Sozialpolitisch gibt es beispielsweise Diskrepanzen zwischen dem überwiegend wirtschaftsliberalen Programm der Gesamtpartei und dem Konzept der »Produktivitätsrente«, mit dem die AfD unter Björn Höcke für die Landtagswahlen am 27. Oktober in Thüringen wirbt. Das Rentenkonzept trägt der Situation Rechnung, dass sich der Leistungsfetisch an der Wirklichkeit blamiert und wegen der Vielzahl »gebrochener Erwerbsbiographien« Rentner mit 45 Beitragsjahren kein Regelfall sind. Seinen national-sozialen Charakter erhält das Konzept durch die verbindung mit einer »Staatsbürgerrente«, die nur deutschen Staatsbürgern ausgezahlt werden soll.

Gauland äußert Sätze wie: »Eine bür­gerliche Partei will das Eigentum schützen und die freie Wirtschaft ver­tei­digen«, die jene Beschäftigten verhöhnen, die unter den inzwischen auch von der AfD beklagten Bedingungen des von der »freien Wirtschaft« erzeug­ten Niedriglohnsektors arbeiten müssen. Zurzeit gelingt der AfD eine in sich widersprüchliche Ansage: Die Partei erreicht mit dem »bürgerlichen« Lob des Eigentums die sich als geschröpfte Steuerzahler verstehenden Selbstän­digen, die nicht für das Elend anderer zahlen wollen, zugleich aber auch die Niedriglöhner und staatlich alimentierten Transferleistungsempfänger, die kaum zur Selbstbestimmung in Gaulands Sinn qua Leistung, Einkommen oder gar Eigentum in der Lage sind.