In Israel steht die Archäologie unter Ideologieverdacht

Tollgeworden vor der Mauer

Schildert die jüdische Überlieferung historische Ereignisse? Der Versuch, diese Frage zu beantworten, hat oftmals auch politische Implikationen. Die Archäologie in Israel steht grundsätzlich unter Ideologieverdacht.

Geschichte wird nicht immer von den Siegern geschrieben. Die Juden haben in der Antike viele Schlachten gegen ­rivalisierende Stämme und Städte sowie alle Kriege gegen die damaligen Großmächte verloren. Dennoch ist es ihre Überlieferung der regionalen Geschichte, die erhalten blieb. Für die Großmächte war diese Pufferzone vor allem von militärischem Interesse, die dort bestehenden Kleinkönigreiche schienen der Erwähnung kaum wert. Phönizier, Kanaaniter, Philister, Moabiter und diverse andere Bewohner dieses Gebiets, die damals im Hinblick auf Militärmacht und zivilisatorischen Stand in etwa mit den Juden gleichauf lagen, haben nur sehr wenige Spuren hinterlassen.

Der Zionismus folgte dem Vorbild anderer Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts und suchte nach historischen »Wurzeln«, seit 1948 auch mit den Mitteln der Archäologie.

In Atarot in Jordanien wurden jüngst einige dieser Spuren freigelegt. Archäologen fanden einen zylindrischen Altarstein mit moabitischen Inschriften, die, so das vorläufige Ergebnis, Beutestücke eines Kriegs gegen die »Hebräer« verzeichnen und belegen, dass die Moabiter Mitte des 9. Jahrhunderts v. Chr. die Sieger waren – anders als der Tanach (2. Könige 3) behauptet. Für jene, die nach Beweisen für die ­historische Genauigkeit der Bibel suchen, sind das schlechte Nachrichten. Andererseits könnte es sich um die erste schriftliche Erwähnung der »Hebräer« handeln – ein Zeugnis der Präsenz der Juden aus der Hand ihrer damaligen Feinde.

Die Archäologie im »Heiligen Land« (Israel, die palästinensischen Gebiete und Teile Jordaniens) steht grundsätzlich unter Ideologieverdacht. »Israel benutzt die Archäologie, um nichtjüdische Geschichte verschwinden zu ­lassen«, schrieben Talya Ezrahi und Yonathan Mizrachi Ende Mai im ­Magazin Forward. Tatsächlich gilt das Interesse vor allem der säkularen ­israelischen Rechten – aus orthodoxer Sicht bedarf die Vergabe des Landes durch Gott keiner weltlichen Bestätigung – Funden, die den historischen Anspruch der Juden auf Israel stützen. Einer Umfrage des Pew Research Center aus dem Jahr 2016 zufolge bedeutet ­jüdisch zu sein für 55 Prozent der jüdischen Israelis, sich auf Geschichte und Kultur der Juden zu beziehen. Für 22 Prozent geht es vor allem um Religion, für 23 Prozent um beides.

 

Von palästinensischer Seite wird ein islamisch legitimierter Anspruch auf Jerusalem erhoben, aber auch ein Erstbesitzrecht auf Israel geltend gemacht. Die Waqf-Behörde, die für die Verwaltung des Tempelbergs zuständige ­islamische Stiftung, richtete mit einem Bauprojekt zur Schaffung einer Ge­betsstätte Ende der neunziger Jahre immensen archäologischen Schaden an. Die meisten Grabungsplätze unterstehen aber israelischen Behörden.

An sich lässt sich der Streit um das historische Besitzrecht leicht klären. Es ist unbestritten, dass das Judentum vor Christentum und Islam entstand. Die Philister, die Palästina ihren Namen gaben, kamen, wie jüngst abgeschlossene DNA-Tests an Knochenfunden in Ashkelon bestätigten, aus Südosteuropa. Die Arabisierung erfolgte im frühen 7. Jahrhundert im Rahmen der islamischen Eroberung. Eine palästinensische Nation wurde erst in den frühen sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts propagiert, mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Entstehen des modernen Zionismus. Der palästinensische Anspruch, zuerst dagewesen zu sein, ist somit politische Mythologie, während die Juden sich zumindest auf zwei Kulturmerkmale, die Religion und die Sprache, berufen können, die seit knapp 3 000 Jahren in »Palästina« nachweisbar sind.

Welche politische Bedeutung historische Ansprüche haben sollten, ist eine andere Frage; die Notwendigkeit eines jüdischen Staates würde auch durch überraschende archäologische Funde nicht aufgehoben. Der Zionismus folgte jedoch dem Vorbild anderer Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts und suchte nach historischen »Wurzeln«, seit 1948 auch mit den Mitteln der Archäologie. Bald traten Differenzen zutage. Yigael Yadin, ehemals Haganah-Kommandant und General­stabschef der IDF, hoffte, Belege für die im Tanach beschriebenen militärischen Konflikte zu finden. Yohanan Aharoni, Kibbuznik und linker Zionist, wollte beweisen, dass friedliche Siedlungstätigkeit entscheidend für die Inbesitznahme des Landes war. Derzeit wird vor allem darüber gestritten, ob archäologische Funde die Historizität der Überlieferung ausreichend belegen, also etwa ein in der »Stadt Davids« gefundener Palast tatsächlich König David zuzuschreiben ist. Differenzen dieser Art sind wissenschaftliche Normalität und können durchaus fruchtbar sein, wenn beide Seiten auf der Grundlage der Fakten streiten und seriös arbeiten.

 

Bei manchen von der derzeitigen ­Regierung, maßgeblich von Kultur­ministerin Miri Regev (Likud), geförderten Projekten ist jedoch ein Trend zum »archäologischen Nationalismus« ­unübersehbar. In Jerusalem arbeitet die Israel Antiquities Authority (IAA) mit der Elad Association/Ir David Foundation zusammen, die sich auf das Erbe König Davids beruft und die Verbindung der Juden zu Jerusalem stärken will. Zu den Projekten gehört der nicht nur von Ezrahi und Mizrachi kritisierte »Pilgerpfad« in Jerusalem, ein Tunnel, der angeblich einem zur Zeit von Pon­tius Pilatus überirdischen Weg zum Zweiten Tempel folgt. Gesichertes Wissen ist das nicht, das Projekt wurde wegen der Methode der horizontalen Grabung von zwei hochrangigen IAA-Beamten als »schlechte Archäologie« kritisiert, zudem klagen palästinensische Einwohner des über dem Tunnel liegenden Viertels Silwan über Schäden an ihren Häusern. Bei der feierlichen Eröffnung des Tunnels Ende Juni waren unter anderem Sara Netanyahu, die Ehefrau des Ministerpräsidenten, und der US-Botschafter David Friedman anwesend, der sagte, es handele sich »ebenso um ein Erbe der USA wie Israels«.

Da die jüdische Überlieferung als Altes Testament ins Christentum überführt wurde und in Form zahlreicher Erzählungen in den Koran Eingang fand, gibt es recht viele Ansprüche auf dieses »Erbe«. Das macht das historische Verständnis nicht einfacher. Der ­Tanach, der zahlreiche – oft überarbeitete – Quellen von der trockenen Chronik über das schlüpfrige Hohelied bis zu prophetischen Visionen vereint, ist keine Geschichtsschreibung im heutigen Sinne. Zudem ist die antike ­Erzählweise eine gänzlich andere als die moderne, sie ist oftmals symbolisch kodiert und mythologisch überhöht. Die Sphären des Göttlichen und des Menschlichen sind im antiken Denken einander viel näher, als sie es in der Vorstellungswelt selbst sehr religiöser Menschen unserer Zeit sind; Moses etwa verhandelt mit Gott wie ein Gewerkschafter mit einem cholerischen Chef.

Die Wunder im Zuge des Exodus sollen den göttlichen Beistand dokumentieren, insofern waren sie für damalige Zuhörer »wahr«, ohne dass diese in ihrem Alltag erwartet hätten, von Gott wie die Juden des Exodus mit einem Wachtelregen bedacht zu werden. Belege für die Flucht aus Ägypten gibt es nicht. Aber hätten die Juden ihrem wichtigsten »National­helden« einen ägyptischen Namen gegeben, wenn alles erfunden wäre? Antike Überlieferung hat in der Regel ­einen realen Bezugspunkt, da eine Gesellschaft, die ihre Erfahrungen tradiert, sich nicht ohne weiteres eine fiktive Herkunft auferlegen lassen würde.

 

Die überlieferten Wunder der späteren Zeit sind weit weniger spektakulär als die des Exodus. Die Überlieferung wird realitätsnäher, und nun finden sich auch archäologische Belege – bislang allerdings keine für einen Ersten Tempel in Jerusalem. Viele Archäologen vermuten, dass das Königreich Salomons und Davids keine Regionalmacht war, die Monumentalbauten errichtete, sondern ein Kleinkönigreich, dessen Bedeutung die spätere Überlieferung erheblich übertrieb. Allerdings berichtet der Tanach, dass die Errichtung des Tempels ohne die Hilfe der verhassten Phönizier nicht möglich gewesen wäre – ein ungewöhnliches Geständnis, wenn es sich um ein erfundenes Bauwerk handelte.

Abgesehen von einer in Tell Dan ­gefundenen hebräischen Inschrift »Beit David« (Haus des David), deren Zuordnung umstritten ist, gibt es ­keinen archäologischen Beleg für die Existenz dieses jüdischen Königs. ­Einem historischen Verständnis der Überlieferung näher als jene, die buchstabengetreu interpretieren wollen, kommt wohl Aren Maeir, dessen Team jüngst unter den bereits erforschten Schichten des antiken Gath über­raschend eine ältere Stadt fand, gebaut mit weitaus größeren Steinblöcken, als sie später verwendet wurden. Dies könnte, so Maeir, die Legende von ­Goliath erklären, den David vor den Toren der Stadt besiegt haben soll. Man habe damals wohl angenommen, ­nur Riesen könnten eine solche Stadt errichten.

Eine für David weniger ruhmreiche Episode soll sich ebenfalls vor dem Tor der Stadt abgespielt haben. Dort wollte er auf der Flucht vor König Saul Zuflucht suchen, doch er war bereits als Krieger berühmt und entschloss sich deshalb zu einem Täuschungsmanöver. »Er kritzelte auf die Torflügel und ließ seinen Speichel auf seinen Bart nieder­laufen. Achisch (der König der Stadt) sprach zu seinen Dienern: Ihr seht ja, tollgeworden ist der Mann, warum lasst ihr ihn zu mir kommen? Mangelt’s mir an Tollen, dass ihr diesen herkommen lasst, damit er sich an mir austolle?« (1. Samuel 21)

Das Graffito Davids am Torflügel dürfte man vergeblich suchen, doch ist bemerkenswert, dass der Tanach keine geradlinige Heldengeschichte Davids erzählt. Die jüdische Überlieferung diente nicht zuletzt der Propaganda und der Selbstvergewisserung, ist aber ­bemerkenswert differenziert und nachdenklich; man scheute sich nicht, ­Widersprüchliches auch einmal stehenzulassen. Dahinter sollte die heutige Geschichtspolitik nicht zurückfallen.