ונגל‘ג - Die ­Zukunft des Gedenkens an die Shoah

Wenn die Überlebenden sterben

Das Gedenken an den Holocaust spielt in Israel eine wichtige Rolle. Doch in nicht allzu ferner Zukunft wird es keine Überlebenden des Holocaust mehr geben, die der Jugend ihre Geschichte erzählen können.

»Hat sich jemals so etwas Schreckliches zu euren Lebzeiten oder zur Zeit eurer Vorfahren ereignet? Erzählt euren Kindern davon, damit sie es ihren eigenen Kindern weitersagen, und diese sollen den folgenden Generationen darüber berichten«, mahnt ein Bibelzitat über den Auszug der Juden aus Ägypten am Eingang der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Doch das Berichten von den eigenen schrecklichen Erlebnissen fiel den Überlebenden nicht immer leicht. In dem von zionistischen Pionieren geprägten jungen jüdischen Staat standen zunächst vor allem die Erzählungen über heldenhaften Widerstand, etwa den jüdischen Partisanenkampf oder den Aufstand im Warschauer Ghetto, im Zentrum der Erinnerungskultur. Das oftmals von Scham- und Schuldgefühlen verursachte Schweigen der traumatisierten Überlebendengeneration und seine Auswirkung auf deren Nachkommen ist bis heute ein wichtiger Topos der Literatur und der Wissenschaft.

»Die Zeit läuft uns davon, es gibt noch so vieles, das wir noch nicht gemacht haben, Zeitzeugen, die wir nicht gesprochen haben.«

Erst mit dem Eichmann-Prozess 1961 und den in der israelischen Öffentlichkeit intensiv rezipierten Aussagen von Überlebenden in diesem Prozess rückte die Perspektive der Opfer immer mehr in den Mittelpunkt – einige sprechen auch von der »Geburt des Zeitzeugen«. Heutzutage spielen Überlebende eine wichtige Rolle in der Erinnerung und der ­Holocaust education. Eine Frage, die derzeit viel diskutiert wird, lautet: Wie wird sich das kollektive Gedächtnis der Juden in Israel verändern, wenn die letzten Zeitzeugen gestorben sind und kaum eine andere Möglichkeit bleibt, als sich medial vermittelt mit ihren Zeugnissen zu beschäftigen?

Noa Mkayton von der Internationalen Schule für Holocaust-Studien an der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem sieht sich und ihre Kolleginnen gut vorbereitet, wenn die Erinnerungsarbeit gänzlich von den Überlebenden auf Museumspädagogen und Historikerinnen übergeht. »Ich glaube an digitale Medien und an deren Potential, man kann mit aufgezeichneten Zeitzeugengesprächen sehr viel machen und vermitteln. Es gibt Unmengen von Material, das wir in der zukünftigen pädagogischen Arbeit nutzen können«, sagt sie und ergänzt: »Aber den direkten Kontakt mit Überlebenden kann man nicht ersetzen. Diese Menschen sind oft hochgradig charismatisch und auratisch. Darüber hinaus haben die Gespräche mit Überlebenden auch eine sicherheitsspendende Funktion für junge Israelis.« Ihr Überleben vermittle auch Hoffnung, trotz der Monstrosität des Geschehenen.

Der Lehrplan für die Holocaust education in Israel sieht vor, Kinder bereits in der Vorschule an das Thema heranzuführen. In der achten Klasse besuchen junge Israelis üblicherweise zum ersten Mal Yad Vashem. Es folgt ein Bildungsprogramm für Soldaten und Soldatinnen, dessen Besuch verbindlich ist. Diese Bildungsarbeit wird auch als eine Moral- und Werteerziehung verstanden. Während die aus der Forderung, »nie wieder Opfer« zu werden, resultierende Notwendigkeit, sich selbst und den Staat zu verteidigen, schon immer Bestandteil der militärischen Erziehung war, wird von jungen Sol­daten und Soldatinnen mittlerweile auch mit Blick auf die Lage in den besetzten Gebieten eine Sensibilität für die eigene Machtposition gefordert – eine nicht unproblematische Schlussfolgerung aus dem Holocaust.

 

An der Schwierigkeit, einerseits die Einzigartigkeit des Holocaust hervorzuheben, anderseits jungen Generationen Anknüpfungspunkte für einen eigenen, lebendigen Zugang zur Geschichte zu liefern, arbeitet man sich auch im Haus der Ghettokämpfer ab, dem 1949 gegründeten ersten Museum zur Erinnerung an den Holocaust. Yaron Tzur, der pädagogische Direktor des Museums, legt den Schwerpunkt auf dialogische Vermittlung statt auf die frontale Präsentation von Fakten. »›Was hat der ­Holocaust mit mir zu tun?‹ Das ist die Frage, die sich den jungen Leute stellt. Unser Ansatz dabei ist folgender: Es ist geschehen, deshalb kann es wieder geschehen«, sagt Yaron Tzur. »Wir möchten mit den Jugendlichen darüber ins Gespräch kommen, welche Rolle sie dabei spielen würden. Sie sollen lernen, den Holocaust nicht nur aus der Perspektive der Opfer, sondern auch aus der der Täter, der Zuschauer, der Helfenden zu betrachten, und begreifen, dass die Frage, auf welcher Seite man dabei steht, einerseits vom Zufall, andererseits aber auch von persönlichen Entscheidungen abhängt.«

Auch Tzur weiß um die Wirkung der persönlichen Begegnung mit Überlebenden, durch die den jungen Leuten die bislang nur theoretisch vermittelten Fragen und Fakten im wahrsten Sinne des Wortes erst richtig nahegehen. Da immer weniger Überlebende noch in der Lage sind, den Besuchergruppen persönlich von ihren Erlebnissen zu berichten, greift das Museum auf andere Techniken zur Vermittlung zurück, etwa auf die wechselnde Präsentation der 2,5 Millionen Artefakte aus dem Archiv, auf von Schauspielerinnen und Schauspielern gesprochene Tagebuchaufzeichnungen und Briefe von Beteiligten am Aufstand im Warschauer Ghetto oder auch auf die Arbeit mit Angehörigen der Zweiten Generation, den Kindern von Überlebenden. Von technischen oder digitalen Lösungen, die eine Begegnung simulieren sollen, hält er nicht viel. »Uns ist es besonders wichtig, dass die heutige Generation von jungen Menschen begreift, dass sie die letzten sind, die noch die Gelegenheit haben, persönlich mit Überlebenden zu sprechen. Sie tragen dadurch die besondere Verantwortung, diese Begegnung und damit die Erinnerung an die Shoah wie bei einem Staffellauf an ihre Kinder weiterzutragen.«

In Yad Vashem will man die Möglichkeit so lange wie möglich nutzen. »Die Zeit läuft uns davon, es gibt noch so vieles, das wir noch nicht gemacht haben, Zeitzeugen, die wir nicht gesprochen haben«, sagt Noa Mkayton. So gibt es eine eigene Abteilung, die immer noch Testimonials aufnimmt.

Die zukünftige Vermittlung wird also wohl zum einen als persönliche Weitergabe von indirekt Erfahrenem, zum anderen als medial vermittelte Weitergabe von persönlich Erfahrenem vor sich gehen. Dass die Geschichte nach dem Übergang von der gegenwärtigen zur reinen Vergangenheit zwar verblasst, aber nicht vergessen wird, beweist alljährlich das Pessachfest, bei dem – gemäß der alttestamentarischen Forderung – seit über 2 500 Jahren des Auszugs der Juden aus Ägypten gedacht wird.