Kritik an der Historikerin Joan Wallach Scott für ihre Haltung zu Kritik an Israel

Taschenspielertrick der Kritikabwehr

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Scott betont zu Recht, dass kritisches Denken eine disziplinierte und im emphatischen Sinne intolerante Praxis ist – oder es ist kein kritisches Denken. Das schreibt sie durchaus auch Studenten, die ihr politisch nahestehen, ins Stammbuch, wenn sie bestimmte Formen des campus activism kritisiert. Es klingt wie ein Nachhall auf Adornos Lob des Elfenbeinturms in einem Spiegel-Interview 1969, »daß eine Theorie viel eher fähig ist, kraft ihrer eigenen Objektivität praktisch zu wirken, als wenn sie sich von vornherein der Praxis unterwirft«, wenn Scott die Impulsivität und oft diffuse Empörung von studentischen Aktivisten ihr Plädoyer für intellektuelle, methodische und strategische Strenge entgegenhält.

In diesem Zusammenhang warnt Scott vor einem »affective turn« in der höheren Bildung, der sich gerade vollziehe und der um die Forderungen von Studierenden nach emotionaler »Sicherheit« kreist, die für Scott wiederum ein Einfallstor für sachfremde Einflussnahme und Entpolitisierung darstellt. Dieser Affektdiskurs werde flankiert von einer neuen Emphase von Höflichkeit und Anstand (»civility«), deren oft historisch rassistische und antisemitische Semantik Scott knapp, aber instruktiv skizziert. »Civility«, so Scott, gehöre als Norm insofern zum »affective turn«, als es gelte, nur ja zu vermeiden, dass jemand von politischen oder wissenschaftlichen Ideen verletzt werden könnte. Scotts Befund wird durchaus auch von Beispielen außerhalb der Universität bestätigt. So produziert etwa der demokratische Präsidentschaftskandidat Tim Ryan ein besonders peinliches Dokument »protestantischer Etikette« unter dem Vorzeichen von »civility«: Dem Kongressabgeordneten aus Ohio ist es nicht zu dumm, Aufkleber mit dem Slogan »You don’t have to yell« unters Volk zu bringen, eine allzu höflich vorgebrachte Spitze gegen seinen Mitbewerber Bernie Sanders, dessen Rhetorik schon häufiger von Konkurrenten beanstandet wurde.

So sehr man ihrer Diagnose hier folgen möchte, so irritierend ist Scotts Fallbeispiel. Im August 2014 hätte der Politik- und Literaturwissenschaftler Steven Salaita eine Stelle an der University of Illinois antreten sollen. Dazu kam es nicht, da die Berufungskommission, nach der scharfen Kritik an einigen Tweets Salai­tas anlässlich des Gaza-Konflikts von 2014 Zweifel an seiner Eignung für die Lehre hatte. In Scotts Nach­erzählung handelte es sich hier um den Versuch, einen aufrecht empörten Nachwuchswissenschaftler mit wissenschaftsfremden Mitteln mundtot zu machen, und sie zieht Parallelen zur McCarthy-Ära.