Schulen in sozialen Brennpunkten

Das Problem heißt Rassismus

Viele Eltern möchten ihre Kinder nicht auf Schulen mit einem hohen Anteil nichtdeutscher Schüler schicken. Dafür kann es gute Gründe geben.

Viele Menschen empören sich dieser Tage über Eltern, die ihre Kinder nicht auf Schulen schicken möchten, von ­denen sie glauben, dass da zu viel schiefläuft. Diese Eltern werden moralisch angeprangert, weil ihnen Stadtviertel wie das nördliche Neukölln in Berlin zum Wohnen gut genug seien, nicht aber, um ihre Kinder dort zur Schule zu schicken. Die Versagensangst, die Eltern antrainiert wurde, wirft man ihnen vor, wenn es um die Schulwahl ihrer Kinder geht – und vergisst dabei, dass ihnen auch ständig der Vorwurf im Nacken sitzt, für diese nicht genug getan zu haben.

Die Versagensangst, die Eltern antrainiert wurde, wirft man ihnen vor, wenn es um die Schulwahl ihrer Kinder geht.

Weil die tatsächliche Qualität einer Grundschule häufig nicht in Erfahrung gebracht werden kann, nehmen viele Eltern den Zuwandereranteil einer Schule als Indiz für das Lernumfeld und das Leistungsniveau. In Berlin lautet der Code für den Anteil nicht muttersprachlicher Schüler »ndH« (nicht deutscher Herkunftssprache) und ist für jede Schule auf den Internetseiten des Senats nachzulesen. Sein Kind auf eine andere Schule als die sogenannten Einzugsschule zu schicken, erfordert hohen Zeitaufwand, Durchsetzungs­vermögen und juristisches Detailwissen über das deutsche Schulsystem.

Es ist verständlich, wenn Eltern, die sich den Umzug in eine bessere Wohngegend, eine Privatschule oder den Anwalt nicht leisten können, sich im Stich gelassen fühlen. Tatsächlich kann es helfen, sich in Elterninitiativen zusammenzuschließen und direkten Einfluss auf die Schulen zu nehmen. Dafür aber ist Zeit nötig, die Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen oft nicht haben. Wenn es nicht schon Strukturen und Netzwerke gibt, ist es viel Arbeit, sie aufzubauen. Die Elterninitiative Elbe-Schule ist ein solcher ­Zusammenschluss. Im Berliner Stadteil Neukölln gründete sie sich im Frühjahr diesen Jahres, um Eltern zu ermuntern, ihre Kinde auf die Grundschule im Kiez zu schicken.

»Uns ist bewusst, dass wir uns im Spannungsfeld eines gentrifizierten Kiezes befinden, dessen Grundschulangebot bisher von hauptsächlich ­bildungsbürgerlichen hinzugezogenen Eltern im Großen und Ganzen ignoriert wurde. Stattdessen schicken Eltern ihre Kinder lieber in angrenzende ­Bezirke auf Schulen, die einen besseren Ruf genießen«, beschreibt die Initia­tive die Situation auf ihrer Homepage.

Wer es sich leisten kann, weicht oft auf Privatschulen aus. Die versprechen kleinere Klassen sowie besondere ­Förderangebote und können je nach Einkommen der Eltern und Alter der ­Kinder zwischen 100 und 500 Euro im Monat kosten. Warum schicken bisweilen auch politisch links stehende Eltern ihre Kinder auf Privatschulen? Damit sie mit zwei Dingen nicht konfrontiert werden, mit denen auf Regelgrundschulen in manchen Bezirken zu rechnen ist, nämlich mit schlechtem oder gar keinem Unterricht und unerwünschten Mitschülern.

 

Es ist die zweifelhafte Errungenschaft einer rechts und sozialdarwinistisch geprägten Debatte, wie man sie unter anderem Thilo Sarrazin verdankt, dass diese beiden Sorgen vermengt werden – weil es der Schule nicht gelingt, guten Unterricht anzubieten und die Kinder zu solidarischen Umgangsformen zu erziehen. Das nämlich gehört zu den Aufgaben einer Schule, zumal einer Grundschule; aber auch in den weiterführenden Schulen spielt soziales Lernen eine wichtige Rolle.

Deutsche und internationale Schulleistungsuntersuchungen belegen seit Jahren das durchschnittlich schlechtere Abschneiden von Grundschülern mit Migrationshintergrund. Doch ein hoher Anteil von Kindern mit Migrations­hintergrund muss kein Problem sein, wenn die Kita oder Grundschule damit umzugehen wissen.

Ein Beispiel dafür ist die Fichtelgebirge-Grundschule in Berlin-Kreuzberg, die sich an der Bildungsinitiative »Wrangelkiez macht Schule« beteiligt. Von einem beliebten Beispiel für die Schrecken sogenannter sozialer Brennpunkte entwickelte sie sich in den vergangenen Jahren zu einer Vorzeigeschule, mit Hilfe progressiver Lern­konzepte, sozialen Lernens, Demokratieerziehung, Trainings zu Gewaltfreiheit – und aufgrund eines Personalschlüssels, der in manchen Klassen die Anwesenheit von bis zu drei erwachsenen Personen erlaubt: Lehrerin, Erzieherin, Sozialpädagogin. So funktioniert die Inklusion aller Kinder, denn alle ­Kinder brauchen Inklusion. Und das kostet Geld.

Wenn Eltern also ihre Kinder nicht in die Einzugsschule schicken möchten, kann es dafür gute Gründe geben. In manchen Neuköllner Schulen unterrichten bis zu zehn Lehrkräfte, die Quereinsteiger sind, vorher also einen ­anderen Beruf ausgeübt haben. Quereinstieg funktioniert in Berlin so: Man stellt sich mit dürftiger Hilfe und Vorbereitung, die über einige Wochen Seminare und berufsbegleitende Angebote nicht hinausgeht, vor eine Klasse von 30 unmotivierten Kindern, die eventuell monatelang keinen geregelten Unterricht hatten, von wechselnden Lehrkräften betreut wurden, keine Bezugspersonen haben und denen ohnehin permanent vermittelt wurde, dass aus ihnen nichts werden kann. ­Berlinweit waren von 2 734 zum Schuljahr 2019/2020 eingestellten Lehrkräften nur 1 085 ausgebildete Pädagogen. Das entspricht 40 Prozent. Manche Quereinsteiger meistern die an sie gestellten Anforderungen großartig, andere kriegen Wutausbrüche und Heulkrämpfe. Einige brechen die angestrebte Karriere als Lehrerin oder Lehrer ab oder verzichten auf die Vermittlung des Lehrstoffs, um mit der Klasse zurechtzukommen.

 

Das Problem der Nichtanmeldungen an der Einzugsschule wird jedoch mit rassistischen Untertönen diskutiert. Im August gab der CDU-Bundestagsabgeordnete Carsten Linnemann der Rheinischen Post ein Interview, in dem er verkündete: »Um es auf den Punkt zu bringen: Ein Kind, das kaum Deutsch spricht und versteht, hat auf einer Grundschule noch nichts zu suchen.« Im selben Text schwadroniert er über Parallelgesellschaften und Stress in Freibädern, womit er verschiedene ­Projektionen der rassistischen deutschen Mehrheitsgesellschaft auf türkisch- und arabischstämmige Kinder und Jugendliche zusammenmengt. Er zog mit diesen Aussagen den Zorn vieler Menschen auf sich, die auf Twitter und Facebook erzählten, wie sie als Kinder in der Schule Deutsch gelernt ­haben.

Wütend wurden auch so manche Neuköllner Eltern, als sie im vergangenen Sommer in der Bild-Zeitung lasen: »Berliner Rektorin klagt: Nur eins von 103 Kindern spricht zu Hause Deutsch«. Jeden Sommer zum Schulanfang wird die Gefahr beschworen, die angeblich von Schülerinnen und Schülern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, ausgeht, und im Stil Sarrazins wird sie immer wieder als Chiffre für rassistische Abwertung benutzt. Zumindest implizit wird deutlich gemacht, dass es vor allem um Türkisch und Arabisch geht – wenn zu Hause Englisch gesprochen wird, gilt dies nicht als Problem.

Kinder, die eine andere Sprache bereits gut sprechen, erreichen im Grundschulalter schnell ein vergleichbares Niveau im Deutschen – wenn sie entsprechend gefördert werden. Doch in Deutschland stellt man sich Schulen offenbar immer noch als Orte vor, für die bestimmte Zugangsvoraussetzungen gelten, nicht als solche, in denen die Folgen sozialer Benachteiligung durch Förderung kompensiert werden.  Mehr als in anderen Ländern hängt der schulische Erfolg der Kinder hierzulande von der Herkunft und dem Bildungsniveau der Eltern ab.

Erziehung erfordert auch emotionale Bindung, Achtung, Respekt und ein Interesse für die Lebensumstände. Das aber können viele Lehrkräfte nicht leisten, zweifellos auch, weil sie heillos überfordert und überarbeitet sind.

Das Problem heißt also auch Rassismus. Es ist aber nicht in erster Linie der Rassismus jener, die wegziehen oder ihr Kind auf Privatschulen schicken. Es ist vor allem der institutionelle Rassismus, der Schülerinnen und Schüler nach ihrer Herkunft markiert.