Anarchistenhochburg in Athen

Exarchia soll sauber werden

Im Athener Stadtteil Exarchia halten Autonome Häuser besetzt, Geflüchtete verbergen sich in dem Viertel, wenn ihnen Abschiebung droht. Die konservative Regierung will dem nun ein Ende machen.

Gemächlich schlendert Ahrend* den von Bäumen überragten Weg hinter dem Exarchia-Platz die Themistokleous-Straße hinauf. Auf seinem Rücken trägt er einen kleinen Sportrucksack mit dem Nötigsten und eine zerfetzte Gitarrentasche. In der drückenden Mittagshitze des Athener Spätsommers sucht er in den Straßenschluchten nach einem ruhigen Platz für die kommenden Stunden. Unzählige Male bleibt er auf seinem Weg stehen, unterhält sich auf Arabisch mit Bekannten. Einer schenkt ihm etwas von dem Gras, das hier an vielen Ecken zum Verkauf an­geboten wird. Kurz wird die träge Stimmung durchbrochen, als eine Gruppe Polizisten der griechischen Aufstandsbekämpfungseinheit MAT am Ende der Straße vorbeiläuft. Ahrend beachtet sie kaum und sagt leicht verächtlich: »Die interessieren sich nicht für uns.« An einer der Treppen zum Strefi-Hügel findet er seinen Platz – mit Blick über den Stadtteil Exarchia. Aus einer kleinen Bluetoothbox eines anderen Geflüchteten tönen französische und deutsche Rapsongs. Ahrend begleitet sie auf seiner Gitarre und singt mal auf Arabisch, mal auf Französisch. Mit einem Schluck Wasser nimmt er eine Tablette des Antiepileptikums Lyrica und verfällt in Lethargie.

»Das Leben auf der Straße ist hart. Man muss beweisen, dass man stark ist.«

Ahrend kommt aus Algerien, wie viele andere Geflüchtet lebt er auf der Straße. Manchen geht es dennoch besser als denen, die in den völlig überfüllten, menschenunwürdigen Flüchtlingslagern interniert sind. Erst am Sonntag vorvergangener Woche kam eine Geflüchtete bei einem Brand im berüchtigten Lager Moria auf Lesbos ums Leben. Die seit Juli amtierende Regierung der konservativen Partei Nea Dimokratia unter Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis kündigte daraufhin eine ­drastische Verschärfung in der Migrationspolitik an. Bis Ende 2020 ­sollen 10.000 Geflüchtete in die Türkei abgeschoben werden.

Ahrend* auf dem Exarchia-Platz. Er hofft, dass er nicht mehr lange auf der Straße leben muss.

Bild:
Michael Trammer

Doch auch in Exarchia nimmt der Druck zu, nicht nur auf Geflüchtete. Ministerpräsident Mitsotakis hat »die Säuberung Exarchias« versprochen – von Autonomen, Dealern und Geflüchteten. Ende August räumte die Polizei dort vier besetzte Häuser, in einigen lebten auch zahlreiche Geflüchtete. Die lange leerstehenden Gebäude waren nach 2015 besetzt worden, um Wohnraum für Geflüchtete zu schaffen. Die damalige Regierung unter Alexis Tsipras von der linken Partei Syriza tolerierte das bis zu einem gewissen Grad, wurde doch dem Staat die Aufgabe abgenommen, die Unterbringung der Geflüchteten zu gewährleisten. Doch auch unter der Syriza-Regierung gab es bereits Räumungen. Die neue Regierung hat den Ton sowie das Vorgehen verschärft. Eine Reihe polizeilicher Aktionen fanden seither im Viertel statt, insbeson­dere gegen die anarchistische Gruppe Rouvikonas, die immer wieder mit spektakulären Aktionen auf Verdrängung im Viertel aufmerksam macht, aber auch gegen Heroindealer protestiert. Das besetzte Zentrum K-Vox, das als Hauptquartier der Gruppe gilt, wurde ebenfalls von der Polizei angegriffen.

 

Achtung, Kontrolle

Ende August. Wagen der Verbrechensbekämpfungseinheit OPKE rasen von allen Seiten auf den Exarchia-Platz im Herzen des Viertels zu. Polizisten, vermummt und schwer bewaffnet, sprinten umher, nehmen Menschen in ­Gewahrsam. Minuten später ist der Spuk vorbei. Ein Grieche, der Stunden nach einer in Ingewahrsamnahme aufgrund mangelnder Beweise freigelassen wurde, berichtet später, von Beamten auf der Wache von Omonia geschlagen worden zu sein. Bis zu dreimal täglich geht die Polizei auf diese Weise gegen den Drogen- und Zigarettenhandel vor.

»Jeder kann mit seinem Körper machen, was er will, aber das, was hier passiert, wollen wir nicht in unserem Viertel.«

Ahrend sieht die Drogenrazzien entspannt. Er verkaufe nicht oft, er brauche nur sehr wenig Geld. Sobald etwas merkwürdig erscheine, stehe er gemächlich auf und bewege sich in eine der kleinen Gassen um den Platz. »Nicht rennen«, sagt er, das mache verdächtig. So seien zahlreiche Menschen und auch er beinahe in eine Falle der griechischen Polizei getappt: Die MAT scheuchte Geflüchtete auf, in einer Seitenstraße wartete die Festnahmeeinheit. Auch wenn abends Angriffe der Autonomen auf die Polizei stattfänden und die MAT ins Viertel komme, müsse er sich wie viele andere verstecken, um nicht festgenommen zu werden und wieder in die Mühlen des europäischen Asylsystems zu gelangen.

Lange wagte sich die Athener Polizei kaum ins Viertel. Aus verschiedenen Gründen suchen Menschen in Exarchia Rückzug: Sie fliehen aus anderen Athener Problemvierteln wie Viktoria, ver­suchen, sich der Registrierung in Griechenland zu entziehen, oder verbergen sich, weil ihr Asylantrag bereits anderswo abgelehnt wurde. In besetzten Häusern, im Park auf dem Hügel über dem Viertel und auf der Straße leben Hunderte Menschen. Es gibt zahlreiche solidarische Angebote, Anlaufstellen und Unterstützung für Geflüchtete. Beim Verlassen des Viertels droht aber der Zugriff des Staats. So wird für manche der Freiraum zum Freiluftgefängnis, auch für Ahrend. Er habe Exarchia in den vergangenen Monaten kaum verlassen. Die Tage verbringt er auf dem Exarchia-Platz, die Nächte in einem geknackten Auto oder manchmal in einem besetzten Haus.

Polizeieinsätze und Razzien gehören in Exarchia mittlerweile zum Alltag.

Bild:
Michael Trammer

Aus mehreren Gründen, so sagt er, fühle er sich dort allerdings nicht mehr wohl. Für viele Geflüchtete ist Athen nur eine Durchgangsstation auf dem Weg in ein anderes Land. Bei einem offenen Hausplenum in einem der besetzten Häuser werden die Probleme schnell deutlich: Es kommt zu Diebstählen, die Bewohner sehen die Unterkunft eher als Serviceleistung und als Zwischenstopp. Politisches Zusammenleben ist für viele neu und muss erst erlernt werden. Wegen des steigenden staatlichen Repressionsdrucks häufen sich Konflikte zwischen den Bewohnern. Für viele Geflüchtete ist es aufgrund ihres prekären Aufenthaltsstatus sehr gefährlich, sich an der Verteidigung der besetzten Häuser beteiligen. Weil ihnen nicht klar ist, dass Polizeirazzien drohen, schließen manche die Türen nicht richtig ab.

 

Stress mit der Mafia

Der Exarchia-Platz ist mittlerweile zum Drogenumschlagplatz geworden. Früher drängten sich hier abends Aktivisten, Künstler und Geflüchtete. Auch damals wurden Drogen konsumiert, doch stand dies nicht im Vor­dergrund – die Menschen spielten Musik, sangen, lachten, tanzten. Das ist vorbei, der Platz hat sich geleert, für viele ist der Drogenverkauf zur Hauptbeschäftigung geworden. Die populäre braune Grassorte heißt »Albanico«. Es gibt das Gerücht, ein Mann wache hier für die albanische Mafia. Mit gutem Überblick beobachte er täglich das Treiben auf dem Platz, tauche aber immer erst nach den Razzien der Spezialeinheit auf. Die albanische Mafia gilt als eines der am weitesten entwickelten in Clanstrukturen operierenden kriminellen Netzwerke der Welt. In Gesprächen mit Anwohnerinnen und Anwohnern wird deutlich: Sie vermuten, es gebe eine Verbindung zwischen der organisierten Kriminalität und der neuen Regierung.

Immer wieder enden Auseinandersetzungen mit der Mafia tödlich. 2017 wurde ein Algerier auf offener Straße, nur wenige hundert Meter vom Exarchia-Platz entfernt, von einem Angreifer auf einem Motorrad erschossen. Wegen solcher Verbrechen ist für viele Autonome neben der Polizei die organisierte Kriminalität der Hauptfeind im Viertel.

12. September: Eine anarchistische Gruppe hält eine Kundgebung ab und verjagt Dealer mit dicken Fahnenstangen, die sie als Knüppel benutzt. Eine Tüte mit Gras, die am Boden lag, wird verbrannt. Die Mitglieder der Gruppe hängen ein Banner auf mit der Aufschrift: »Gegen die Narco-Mafia, den sozialen Kannibalismus und staatliche Repression. Der Kampf um ein Exarchia der sozialen Selbstorganisation und Klassensolidarität.« Leider steht die Botschaft auf dem Banner nur auf Griechisch und somit nur für die wenigsten Dealer lesbar.

Zugriff in Exarchia. Die Polizei nimmt einen mutmaßlichen Dealer fest.

Bild:
Michael Trammer

Auch Ahrend muss den Platz verlassen. Wie die Polizei Stunden zuvor indentifizierten die Mitglieder der Gruppe mutmaßliche Dealer anhand der Hautfarbe. »Wir sind die Situation leid«, sagt der Aktivist Alexis*. »Jeder kann mit seinem Körper machen, was er will, aber das, was hier passiert, wollen wir nicht in unserem Viertel.«

Die organisierte Kriminalität sieht im politischen Freiraum, der mit Molotow-Cocktails und Straßenschlachten erkämpft wurde, ein profitables Geschäftsfeld. Die Regierung Mitsotakis wiederum nutzt die Situation als Vorwand für häufige Polizeieinsätze. Das Ziel dieser Razzien sind beinahe immer people of color. Sie treffen vor allem diejenigen, die dealen, um zu überleben. Für einige Geflüchtete ist der Verkauf von Drogen die einzige Möglichkeit, sich den staatlichen Internierungszentren zu entziehen. Mancher sieht auch in einem Asylverfahren keine Chance. Meist stehen um die 30 Dealer auf dem Platz. Die Gruppen sind nach Herkunftsländern organisiert. Wer über den Platz geht, dem wird in kürzester Zeit schlechtes Gras zu einem hohen Preis angeboten. Die Kunden der Dealer sind meist Touristinnen und Touristen.

 

Hohe Mieten, viele Drogen

Auch Ahrend muss hier ab und an dealen, er braucht Geld für Essen, Trinken und Tabletten. Er habe sich vor­genommen, sein Leben auf der Straße zu beenden – doch er kämpfte jeden Tag ums Überleben, erzählt er. Er sei aus Algerien nach Europa gekommen und bereits einige Jahre in Deutschland gewesen. Noch während seines laufenden Asylverfahrens habe er dort wegen Drogenschmuggels im Gefängnis gesessen. Nach zehn Monaten sei er im Mai 2018 nach Algerien abgeschoben worden. Dort wollte er nicht bleiben. Zum einen, weil der algerische Staat ihn gleich nach seiner Ankunft zum Militärdienst einziehen wollte, den er noch nicht geleistet hatte. Zum anderen, weil er sich dort nicht mehr zugehörig gefühlt habe. Sechs Jahre hatte er bereits in Europa gelebt. In Deutschland habe man ihn immer den Algerier genannt, in Algerien nur den Deutschen.

Die Feindbilder der Autonomen in Exarchia: Touristen und Polizisten.

Bild:
Michael Trammer

Seit einigen Monaten sei er nun bereits in Athen. Er habe sich allein zu Fuß von Istanbul hierher durchgeschlagen. Mit dem Gitarrespielen verdiene er nicht einmal genug zum Essen, daher deale er manchmal. Dann sitze er den ganzen Tag am Straßenrand und warte, bis ihn jemand nach Gras fragt. Er schäme sich, aktiv seine Ware anzubieten, er wolle nicht als einer der Drogendealer des Platzes angesehen werden. Doch an den Tagen, an denen er dealt, gehört er zu dieser Gruppe. Vor allem nachts kommt es rund um den Platz immer wieder zu Schlägereien, auch zu Messerstechereien. Um sich zu schützen, sagt Ahrend, habe er immer einen Schraubenzieher bei sich – Messer möge er nicht. »Das Leben auf der Straße ist hart. Man muss beweisen, dass man stark ist.«

Wenn die Auseinandersetzungen zwischen den Dealern eskalieren, intervenieren manchmal Autonome. Auch gegen die steigenden Mietpreise, den Ausverkauf des Viertels und die Vermietung von Ferienwohnungen über Airbnb richten sich Aktionen einiger Gruppen. Im Internet finden sich Bilder von Nägeln in Türschlössern und Anti-Airbnb-Graffiti in Haus­eingängen. An einer Wand im Viertel prangt eine stilisierte Karte, darunter steht »Airbnb burn«.

14. September: Ein Zusammenschluss zahlreicher besetzter Häuser und po­litischer Gruppen ruft zu einer Großdemonstration gegen Räumungen und staatliche Repression auf. Es kommen Tausende Demonstrierende, der Zug verläuft äußerst friedlich. Später greifen einige Personen jedoch die Polizei in Exarchia an. In kürzester Zeit tauchen zahlreiche MAT-Einheiten auf, setzen Ummengen an Tränengas ein und ersticken Ausschreitungen im Keim.

Gegen Repression und Verdrängung. Demonstration am 14. September.

Bild:
Michael Trammer

Auch Ahrend ist während der Zusammenstöße im Viertel. Er nimmt das alles wahr, doch es zieht an ihm vorbei. Er hält sich am Rand und beobachtet. Nachdem sich die Stimmung beruhigt hat, setzt er sich mit Bekannten an die Themistokleous-Straße. Für ihn geht nur ein weiterer Tag zu Ende.

In Exarchia wolle er einfach in Ruhe leben, sagt Ahrend. Immer wieder spricht er von den Schwierigkeiten seines Alltags. Wie viele andere nimmt er Lyrica, bis zu 60 Tabletten an manchen Tagen. Süchtig sei er nicht, behauptet er. Doch das Antiepileptikum mit dem Wirkstoff Pregabalin hat der deutschen Apothekervereinigung zufolge ein hohes Suchtpotential. 60 Tabletten in einer Dosierung von 150 Milligramm entsprechen 9 000 Milligramm des Wirkstoffs, die von Medizinern empfohlene Tageshöchstdosis liegt bei 600 Milligramm. Ahrend redet sehr offen über seinen Konsum. Er erzählt von der euphorisierenden Wirkung und auch von Erinnerungslücken, die die Tabletten verursachen. So sei er vor kurzem in einer Polizeiwache aufgewacht. Sein Gras sei weg gewessen und er habe sich an nichts erinnern können. Was von dieser Nacht bleibt: Die Reste einer Wunde auf seiner Stirn, die sicher eine Narbe hinterlassen wird. Vielleicht stammt sie von ­einem Schlagstock, vielleicht von einem Sturz – er wisse nur noch, dass er die Konfrontation mit der MAT am Rand des Bezirk gesucht habe. Großes Glück sei es gewesen, dass sie ihn laufen ­gelassen haben, sagt er.

* Name von der Redaktion geändert.


Mittlerweile sitzt Ahrend in Griechenland im Gefängnis. Die Umstände seiner Verhaftung sind unklar. Als letztes meldete er sich bei unserem Autor mit den Worten »Ich bin verhaftet. .... 8 yrs.« (Stand 11. November 2019)