Missverständnisse bei der Lektüre von Ronald M. Schernikaus »legende«

Zu schön, um wahr zu sein

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Wahrscheinlich beruht eine solche Lesart Schernikaus auf einem Missverständnis dessen, was Affirmation und was Utopie in Schernikaus Texten bedeutet: Wenn »so schön« ein »utopischer film« ist, dann nicht deshalb, weil das Erzählte als »Utopie« aufzufassen wäre. »Utopisch« ist »so schön« nicht in dem Sinne, in dem Thomas Morus’ »Utopia« von 1516 »utopisch« ist. Morus’ Text, der Gründungstext der Gattung Utopie, schildert bis ins kleinste Detail, wie eine optimale Gesellschaft gestaltet sein müsste: »Über den bestmöglichen Zustand des Staates« lautet denn auch sein Untertitel.

Schernikaus »utopischer film« ist weit davon entfernt, das, was er erzählt, was sich unter den Voraussetzungen des Spätkapitalismus unter schwulen Kommunisten abspielt, für einen bestmöglichen Zustand zu halten. Es ist zu befürchten, dass »So Pretty« die Ödnis, die geschildert wird, für utopisch in diesem Sinne hält. Schernikaus Text ist ein utopischer Film in dem Sinne, dass er als Film utopisch ist. Wie die Schlager, die der Text zitiert, wie die Märchenwelt, auf die er anspielt, führt »so schön« den Konflikt einem glücklichen Ende zu. Doch wer die Affirmation des Happy Ends für Utopie hält, der unterschätzt Schernikau dramatisch. Dass man so einfach den Frieden mit der Subkultur nicht machen kann, könnte man auch aus der in der »legende« vorhergehenden Einlage »die heftige variante des lockerseins« erfahren, ein wenig heiterer und wenig gut gelaunter Text. Das Utopische an »so schön« ist das Erzählen von einem Film. Der Text lädt seine Leserinnen nicht dazu ein, sich die erzählte Geschichte als sich ereignend vorzustellen, sondern er lädt ein, sich die Verfilmung der erzählten Geschichte als sich ereignend vorzustellen. Die utopische Affirmation betrifft den erzählten Film, betrifft die doppelte Vermittlung, betrifft auch die Sprache des Textes, jene hochgradig stilisierte kindliche Einfachheit. »schönheit ist das versprechen, daß das werden kann, was wir uns wünschen«, schreibt Schernikau in »die tage in l«. Man muss genau lesen, um zu sehen, dass das Versprechen das dass und nicht das was betrifft.

Die Neuausgabe der »legende« ist eine Chance, diese Montage als Ganzes zu erleben, aber auch, ihre Teile durch den Kontext der Montage genauer in den Blick zu bekommen. Die Perspektive der »legende« ist eine Retrospektive nach dem historischen Einschnitt, den Schernikau nur als Sieg der Konterrevolution bezeichnen wollte. Kunst ist hier und jetzt nur in Widersprüchen und als Widerspruch möglich. Aus der Sicht der gesamten »legende« erscheint es geradezu als absurd, das im »utopischen film« »so schön« Erzählte ­unter den Voraussetzungen von konformistischem Queerfeminismus als sogenannte »Utopie« ins heutige gesellschaftliche Elend zu über­tragen.