Geflüchtete in Griechenland

Elend auf den Inseln

Die Zahl der in Griechenland ankommenden Flüchtlinge steigt, die bereits verheerende Lage in den Lagern auf den Ägäisinseln verschlechtert sich weiter.

Anfang Oktober besuchte der deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU) Griechenland, nachdem er sich zuvor in Ankara mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan getroffen hatte. Aufgeschreckt von neuerdings vermehrten Flüchtlingsbewegungen in der Ägäis versprach Seehofer, man werde den Mittelmeerländern helfen, ihre Grenzen besser zu sichern. Solche Äußerungen klingen in Zeiten, in denen weltweit die Flüchtlingszahlen steigen und laufend neue sogenannte Fluchtursachen entstehen, zupackend und entschlossen. Sie zielen aber vor allem auf ein heimisches Publikum ab, das von deutscher Politik erwartet, möglichst alles zu tun, damit sich eine »Flüchtlingskrise« wie im Jahr 2015 nicht wiederhole.

Insbesondere Griechenland, ohnehin schon weitgehend von der EU alleine gelassen, ist den Launen der Politik Erdoğans ausgeliefert. 

Dabei unterscheidet sich die Situation in den verschiedenen Mittelmeer­anrainerstaaten, wie sie im offiziellen EU-Jargon heißen, grundlegend. Anders als Italien kann Griechenland nicht einfach die Häfen für Flüchtlinge sperren. Würde die Frontex-Mission in der Ägäis ebenso eingestellt wie die zwischen Italien und Libyen, hätte dies kaum Auswirkungen auf die Zahl der Neuankünfte.

Wer sich nämlich aus Nordafrika auf die lebensgefährliche Überfahrt macht, befindet sich über Hunderte von Kilometern in internationalen Gewässern. Daher rührten die Debatten über Seerecht, sichere Häfen und Seenotrettung sowie das Insistieren des bis September amtierenden italienischen Innenministers Matteo Salvini, man sei nicht verpflichtet, auf hoher See Gerettete aufzunehmen. Flüchtlinge hingegen, die die wenigen Kilometer bewältigen, die das türkische Festland von den ost­ägäischen Inseln trennen, befinden sich bei ihrer Überfahrt keine Sekunde in internationalen Gewässern. Hier grenzt türkisches Hoheitsgebiet direkt an griechisches und wer Letzteres betritt, egal ob vom Land oder vom Meer, befindet sich in der EU und ist vor unmittelbarer »Rückführung« durch europäische Menschenrechtserklärungen und die Genfer Flüchtlingskonvention geschützt.

Mitten in den Meerengen, die die Inseln vom türkischen Festland trennen, lassen sich schwerlich Mauern und Stacheldrahtzäune errichten. Deshalb sind Griechenland und der Rest der EU auch weiterhin abhängig von der Kooperationsbereitschaft der Polizei und der Küstenwache der Türkei. Lassen diese, wie im Jahr 2015, die Boote mit Flüchtlingen ablegen, können weder die griechische Regierung noch andere EU-Länder sie am Anlanden hindern, denn bislang gilt die Türkei nicht als »sicheres Drittland«. Wer griechischen Boden betritt, hat das Recht auf ein Asylverfahren.

 

Weitgehend untätig müssen deshalb griechische Behörden und europäische Staaten dieser Tage zuschauen, wie Nacht für Nacht Hunderte Flüchtlinge die Überfahrt wagen. Unklar ist, warum die Zahlen seit September erneut derart gestiegen sind. Fragt man im heillos überfüllten Lager Moria die Neuankömmlinge, mehrheitlich Menschen aus Afghanistan und Syrien, so hört man, dass die Angst vor Abschiebung aus der Türkei sie zu diesem Schritt bewogen habe. Viele hätten schon länger in der Türkei gelebt und versucht, sich eine neue Existenz aufzubauen, seien aber von den Meldungen aufgeschreckt worden, Erdoğans Regierung habe damit begonnen, systematisch Afghanen und Syrer abzuschieben.

Hotspot des Mangels. Der Müll türmt sich, es fehlt an sanitären Anlagen.

Bild:
Thomas von der Osten-Sacken

Zugleich scheinen die Kontrollen auf türkischer Seite, die zeitweilig recht scharf waren, gelockert worden zu sein; daher ist es wieder einfacher, überzusetzen. Das verwundert wenig, will sich doch auch die türkische Regierung ­inzwischen möglichst schnell möglichst vieler Flüchtlinge entledigen und legitimiert sogar ihren gewaltsamen Einmarsch im kurdisch kontrollierten Nordostsyrien damit, dort Platz für drei Millionen syrische Flüchtlinge aus der Türkei schaffen zu wollen.

Für die türkische Regierung sind die Flüchtlinge Last und Gewinn zugleich. Erdoğan weiß genau, dass die EU zu vielen Zugeständnissen bereit ist, wenn die Türkei dafür verhindert, dass Flüchtlinge aus ihrem Territorium in die EU gelangen. Es liegt seither an Erdoğans Regierung, zu entscheiden, ob sich die Situation des Jahres 2015 wiederholt oder nicht. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit drohen er und andere AKP-Politiker deshalb offen damit, Flüchtlinge massenhaft in die EU ausreisen zu lassen.

Insbesondere Griechenland, ohnehin schon weitgehend von der EU alleine gelassen, ist den Launen der Politik Erdoğans ausgeliefert. Die konservative Partei Nea Dimokratia hat die jüngsten Wahlen auch mit dem Versprechen gewonnen, einen grundlegenden Wandel in der Flüchtlingspolitik einzuleiten. Bislang allerdings besteht dieser hauptsächlich darin, die ohnehin schon miserable Lage Geflüchteter weiter zu verschlechtern, etwa die bisher gewährte kostenlose Gesundheitsversorgung aufzuheben und das Asylrecht zu verschärfen. Denn außer an die Türkei zu appellieren, kann auch die griechische Regierung nicht viel unternehmen, um zu verhindern, dass erneut jeden Monat Zehntausende ins Land kommen.

 

Griechenland fehlt, trotz von der EU gezahlter Millionenbeträge, weiterhin die notwendige Infrastruktur, um die Lager zu verwalten und die Asylgesuche zu bearbeiten. Die Situation in den sogenannten Hotspots auf den östägäischen Inseln, die den Namen Flüchtlingsunterkünfte kaum verdienen, verschlechtert sich deshalb seit geraumer Zeit. Das Lager Moria auf Lesbos war ursprünglich als temporäre Unterkunft für maximal 3 000 Flüchtlinge gedacht, inzwischen beherbergt es 13 000, die größtenteils in Campingzelten in einem nahegelegenen Olivenhain leben, von stinkenden Müllbergen umgeben sind und sich äußerst spärliche sanitäre Einrichtungen teilen müssen.

Die Verhältnisse spotten jeder Beschreibung. Im September trat deshalb der Leiter des Lagers, Yannis Balbakakis, zurück. Constantinos Moutzouris, als Gouverneur der nordägäischen Inseln auch für Lesbos zuständig, entschuldigte sich öffentlich für die dort herrschenden Zustände. Wie angespannt und letztlich unkontrollierbar die Situation ist, zeigte sich, als es im Lager Ende September zu einem Brand kam, bei dem eine Frau und ihr Neugeborenes qualvoll starben. Die Feuerwehr traf erst mit Verspätung ein und sah sich erbosten Bewohnern gegenüber, die auch noch mit Sicherheitskräften aneinandergerieten. Wäre der Wind an diesem Tag etwas stärker gewesen, sagt die Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation, hätte das halbe Lager Feuer fangen können.

Dass auf dem Boden der EU Flüchtlingseinrichtungen existieren, die Alessandro Barberio von der NGO »Ärzte ohne Grenzen« schon 2018 als »Hölle auf Erden« bezeichnete, ist nicht nur Ausdruck einer völlig gescheiterten EU-Flüchtlingspolitik. Denn offiziell handelt es sich bei den Hotspots nur um temporäre Einrichtungen. Würde man auf den Inseln menschenwürdige und für längerfristigen Aufenthalt geeignete Flüchtlingsunterkünfte errichten, die diesen Namen auch verdienten, stieße die Regierung wohl auf heftigen lokalen Widerstand. Zurzeit sind im Umland von Mytilini, der Hauptstadt von Lesbos, die vor 2015 etwa 27 000 Einwohner zählte, bereits über 15 000 Flüchtlinge untergebracht. Noch kam es in Lesbos, anders als auf den Nachbarinseln, weder zu größeren Demonstrationen gegen die Flüchtlinge noch zu anderen Zwischenfällen.

Aber die Stimmung, so berichten Einwohner, schlage langsam um und der Unmut wachse, je mehr Neuankünfte jede Woche registriert würden. Man wolle, heißt es, nicht weiter eine Geisel Erdoğans und der EU sein und hier, am äußersten Ende Europas, die Last verfehlter Politik tragen.
Die Lage kann jederzeit eskalieren, auch wenn die Regierung nach dem Brand in Moria einige Tausend Flüchtlinge, zumeist Frauen und unbegleitete Kinder, aufs Festland evakuiert hat. Denn Nacht für Nacht kommen neue Boote an, und sollte es Erdoğans außenpolitischen Zielen dienlich sein, könnten es noch wesentlich mehr werden. Trotz aller Warnungen sind weder Griechenland noch die EU darauf vorbereitet – ähnlich wie schon 2015. Den Preis dafür werden erneut die Flüchtlinge in den Hotspots und die Bewohner der Inseln zahlen, deren Pech es ist, nur wenige Kilometer von der tür­kischen Küste entfernt zu leben.