Der türkische Einmarsch in Nordsyrien

Statt Vertreibung Unterdrückung

Im türkischen Parlament sprach sich nur die prokurdische HDP gegen den Einmarsch in Nordsyrien aus. Die bedrängten Aufständischen mussten sich dem syrischen Regime unterwerfen.

Im Parlament in Ankara hat sich offenbar etwas verändert. Hätten die Abgeordneten von Präsident Recep Tayyip Erdoğans AKP zuvor über den nicht eben guten Zustand ihrer Partei gesprochen, redeten sie zurzeit nur von der »Operation« in Syrien; selbst der Gang der Abgeordneten sei anders als zuvor, schreibt Abdülkadir Selvi in der Zeitung Hürriyet. Erdoğan macht auch kein Hehl daraus, dass er die Situation innenpolitisch auszunutzen gedenkt. Am 11. Oktober, zwei Tage nach dem Beginn des türkischen Einmarschs in Syrien, rief er »alle Einzelpersonen« in der Türkei dazu auf, in seine Partei einzutreten. Zudem sagte er, es sei sehr wichtig, dass das Oppositionsbündnis geschwächt und gespalten werde.

Erdoğan dürfte mit den bisherigen Geländegewinnen nicht zufrieden sein. Assad wiederum will ganz Syrien zurückerobern.

Bislang ist es ihm nicht gelungen: Die nationalistische İyi Parti und die sozialdemokratische CHP halten noch einigermaßen zusammen. Anders sieht es mit der prokurdischen HDP aus. Ohne deren Hilfe bei den Kommunalwahlen hätte die CHP die AKP im März in Istanbul und Ankara nicht schlagen können, doch hinsichtlich der Invasion in Nordsyrien vertreten die beiden Parteien unterschiedliche Positionen. Am 6. Oktober hatte US-Präsident Donald Trump die Freigabe für die Invasion erteilt, am 7. Oktober sollte das Parlament das Mandat für Auslandseinsätze verlängern. Die CHP tat sich schwer. Sie warnte vor dem »syrischen Sumpf« und wollte verhindern, dass auch nur »einem türkischen ­Soldaten die Nase blutet«. Doch wollte sie nicht so weit gehen zu sagen, der Einmarsch diene eher dem Vorteil der Regierung als der Sicherheit des Landes. Der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıç­daroğlu klagte: »Unser Inneres brennt und brennt.« Schließlich stimmte die CHP den Regierungsplänen zu.

Mit Ausnahme der HDP befürwortete die parlamentarische Opposition die Invasion. Dies dürfte die Zusammenarbeit der HDP mit den anderen Opposi­tionsparteien in Zukunft erheblich erschweren. Zugleich war die Verurteilung des Einmarschs durch die HDP ein willkommener Anlass für die Justiz, Verfahren gegen deren beiden Vorsitzenden zu eröffnen. Auch unter Erdoğan gilt die alte Regel der Türkei, dass die Führungspersonen prokurdischer Parteien irgendwann im Gefängnis landen.

 

Die Spaltung seiner parlamentarischen Gegner in eine türkische und eine kurdische Opposition ist nicht der einzige innenpolitische Gewinn, den Erdoğan mit der Invasion erzielt hat. Zwei seiner früheren Weggefährten, der ehemalige Wirtschaftsminister Ali ­Babacan und der ehemalige Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, wollten ­eigene Parteien gründen. Wegen der Wirtschaftskrise hätten sie Aussicht darauf gehabt, sowohl Mitglieder als auch Wähler der AKP abzuwerben und eventuell sogar Neuwahlen herbeizuführen. Darüber war bis zu Erdoğans Telefonat mit Trump in der Partei getuschelt worden. Doch die nationalistische Erregung hat die ökonomischen Sorgen verdrängt.

Deshalb muss Erdoğan sich auch um die Unterstützung des nationalistischen Lagers vorläufig nicht sorgen, obwohl sein Bundesgenosse Devlet Bahçeli, der Vorsitzende der rechtsextremen MHP, schwer erkrankt ist und ein Abgeordneter der Partei zudem zur İyi Parti überlaufen könnte. 
Selten war es so offensichtlich, dass ein Krieg auch innenpolitisch motiviert ist. Gilt das nur für den türkischen Präsidenten oder vielleicht auch für Trump? Wollte der US-Präsident das Scheitern seiner Friedensverhandlungen mit den Taliban rasch mit einer anderen Rückzugsmeldung kaschieren? Das Telefongespräch mit Erdoğan war möglicherweise ein vorbereiteter Schritt. Anfang August hatte sich Erdoğan überraschend mit den USA darauf geeinigt, eine »Sicherheitszone« in Nordsyrien einzurichten. Die Formulierungen waren vage, es ging vor allem um »vertrauensbildende Maßnahmen«. Zu diesen gehörte auch, dass die überwiegend kurdische Miliz Syrian Democratic Forces (SDF) im Vertrauen auf den Schutz durch die USA ihre Befestigungen an der Grenze abbauten. Bei den türkischen Streitkräften herrschte helle Aufregung über den Pakt mit den als unzuverlässig eingestuften USA. Hohe Offiziere und Geheimdienstler traten zurück oder wurden pensioniert. Erdoğan stand zur Vereinbarung mit den USA. Wusste er, was folgen würde?

Es ist gleichgültig, ob sich Trump bereits im Juli dazu entschlossen hat, seine kurdischen Verbündeten im Stich zu lassen, oder erst am Abend des 6. Oktober. Seine martialischen Drohungen, etwa dass er die türkische Wirtschaft »völlig zerstören« werde, wenn die Türkei nicht näher benannte Beschränkungen missachte, sind nicht mit der Aufforderung verbunden, die Invasion zu beenden. Schließlich forderte er die SDF auf, sich zurückzuziehen, denn gegen einen Gegner mit Luftwaffe könnten sie kaum gewinnen.

 

Tagelang hatten die Kurden an die USA appelliert, den Luftraum über Syrien für die Türkei zu sperren. Einen Tag vor Beginn der Invasion hatten die USA die Koordination der Militärflüge (Air Tasking Order) beendet. Das sah zunächst wie eine gezielte Behinderung der türkischen Kriegsführung aus. Da die Beendigung aber nicht mit einem offiziellen Flugverbot verbunden wurde, dürfte sie die türkischen Einsätze wohl eher erleichtert haben, denn die Türkei musste sich in der Folge nicht mehr bei jedem Flug mit den US-Amerikanern absprechen.

Trotz der militärischen Überlegenheit der Türkei kommt ein Rückzug für die kurdische Verwaltung nicht in Frage. Die große Mehrheit der kurdischen Bevölkerung wohnt nicht weiter als 30 Kilometer von der Grenze entfernt. Viele sind die Nachkommen von Flüchtlingen, die nach einem gescheiterten Aufstand 1925 aus der Türkei in dieses Gebiet kamen. Deshalb wurden sie vom syrischen Ba’ath-Regime lange Zeit wie Staatenlose behandelt. Wenn die kurdische Verwaltung in Grenznähe zerbräche, hätten sie keinen Ort mehr, an den sie sich zurückziehen könnten. Das Regime Bashar al-Assads ist für sie immer noch das geringere Übel, denn es würde sie wenigstens nicht vertreiben. Das gilt auch für die christliche Bevölkerung des Gebiets, Nachfahren von Überlebenden des Völkermords von 1915.

Im UN-Sicherheitsrat stimmten die USA und Russland einmütig gegen eine Verurteilung der türkischen Invasion. Der russische Präsident Wladimir Putin und Assad sind Nutznießer der Situation. Putin stellte sogar die Angriffe auf das von der Türkei kontrollierte Gebiet um Idlib ein, zumindest für eine Woche. Stattdessen versuchten Truppen des Regimes mit iranischer Unterstützung, in die kurdisch kontrollierte Region einzudringen. Zunächst wurde das abgewehrt, doch kurz darauf musste der Kommandeur der SDF, Mazlum Kobanê Abdi, Russland und damit auch das Regime Assads um Hilfe bitten. So leicht hat Assad noch keine Schlacht im Bürgerkrieg gewonnen.

 

Noch ist unklar, was das syrische Eingreifen für die türkische Offensive ­bedeutet. Erdoğans Ziel ist es offenbar, mit der Ansiedlung von syrischen Flüchtlingen, sunnitischen Arabern und Turkmenen eine Pufferzone zwischen den kurdischen Siedlungsgebieten in der Türkei und denen in Syrien und, wie zuvor in al-Bab und Afrin, ein von der Türkei kontrolliertes Territorium auf syrischem Boden zu schaffen.

Zum Zeitpunkt der Einigung zwischen Assad und den SDF hatten die türkische Armee und die mit ihr verbündeten syrischen Milizionäre erst etwas mehr als 100 Quadratkilometer unter ihre Kontrolle gebracht. Die von Erdo­ğan geplante Sicherheitszone soll rund 15 000 Quadratkilometer umfassen. Mit den bisherigen Geländegewinnen dürfte Erdoğan nicht zufrieden sein. Assad wiederum will ganz Syrien zurückerobern, also auch Afrin, al-Bab und das Rebellengebiet um Idlib, das unter Erdoğans Protektion steht.

Im Konflikt der Türkei mit dem syrischen Regime und dessen Verbündeten hat Assad nun die kurdischen Milizen an seiner Seite, während Erdoğan sich bereits Hilfstruppen aus der islamistischen und turkmenischen Opposition aufgebaut hat. Möglicherweise setzt Erdoğan auch auf ein Wiedererstarken des »Islamischen Staats«. Putin kann sich als verlässlicher Bündnispartner darstellen – im Gegensatz zu den USA. Deren Rückzug ist zwar schäbig und politisch desaströs, aber in gewisser Weise auch konsequent. Ein politisches Programm für das kurdische Gebiet hatten sie allenfalls in Ansätzen, auf eine Beteiligung der Kurden an einem Friedensprozess haben sie nie gedrungen.