Nicht nur die USA, sondern auch die EU-Staaten haben im Syrien-Krieg katastrophal versagt

Rette sich, wer kann

Seit dem Abzug der US-Truppen ist der Nordosten Syriens wieder ein Kriegsgebiet. Von der neuen Lage profitieren das Assad-Regime, Russland, die Türkei und der Iran. Der Zivilbevölkerung bleibt bestenfalls, die Fähnchen der neuen Herren zu schwenken.

Ein kurzes Webvideo des russischen Senders RT zeigt, wie auf einer Fernstraße bei Kobanê Fahrzeuge der US-Armee, in hastigem Rückzug begriffen, Richtung Süden fahren – und syrische Regimetruppen in Richtung der türkischen Grenze preschen. »Auf dieser Straße spielten sich über die Jahrhunderte ähnliche Szenen ab zwischen den Armeen der Hethiter, Assyrer, Perser, Griechen, Seleukiden, Römer, Umayyaden, Memluken und Osmanen«, kommentiert der Satiriker Karl Sharro alias @KarlreMarks auf Twitter: »Ein Weltreich geht, ein neues kommt.«

Im Internet kursieren mehrere Videos, in denen mit der Türkei verbündete Kämpfer davon schwärmen, Ungläubigen die Kehle durchzuschneiden.

Verdeutlicht wurde der Epochenwechsel, als der US-Vizepräsident Mike Pence am Freitag nach Istanbul zum türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan reiste. Vor einer gigantischen türkische Flagge verkündete Pence ein Abkommen, das genau das Gegenteil der Schadensbegrenzung war, die die meisten Beobachter erwartet hatten: Statt der von Trump ermöglichten türkischen Invasion doch noch Einhalt zu gebieten, besiegelte Pence das Ende der Selbstverwaltung des kurdischen Gebiets in Nordsyrien, auch bekannt als Rojava, und damit auch das vor ­läufige Ende des US-Einflusses in der Region.

Die Vereinbarung war wie ein Geschenk für Erdoğan: Die Truppen der Verwaltung der kurdisch geprägten Partei PYD müssen sich aus den von der Türkei beanspruchten Gebieten zurückziehen – innerhalb von 120 Stunden. Diese Frist war genau bemessen. Sie lief bis zu einem da bereits geplanten Treffen von Erdoğan und Russlands Präsidenten Wladimir Putin am Dienstag in Sotchi. Die USA sind vorerst raus, also geht die Aufteilung Syriens in die nächste Runde. Wie sie ausgehen wird, ist unklar. Aber die Gewinner stehen schon fest: das Assad-Regime, der Iran, Russland und die Türkei.

Was es heißt, auf der Seite der Verlierer zu stehen, zeigt beispielhaft eine Szene auf der Schnellstraße M4 Richtung Raqqa: Kämpfer der von der Türkei finanzierten syrischen Miliz Ahrar al-Sharqiya misshandeln und exekutieren mehrere Zivilistinnen und Zivilisten, schießen auf deren schon leblosen Körper und lassen sich dabei filmen – von einem Kameraden, der zeitweilig in Halle an der Saale lebte. Unter den Opfern ist die Politikerin Hevrin Khalaf von der kurdischen Zukunftspartei, die im Ruf stand, sich für die Versöhnung der verschiedenen Minderheiten der Region und für Frauenrechte einzusetzen. Ihre Ermordung bezeichnete die türkische AKP-nahe Zeitung Yeni Şafak kurz darauf als »erfolgreiche Operation«, man habe eine Terroristin neutralisiert.

Angesichts solcher Szenen klingt die Begründung der kurdischen PYD-Regierung dafür, dass sie kurz nach Beginn der türkischen Offensive das Assad-Regime und Russland zu Hilfe rief, plausibel. »Wenn wir uns zwischen Kompromissen und einem Genozid entscheiden müssen, entscheiden wir uns für das Leben unseres Volkes«, so Mazlum Abdi, der Oberbefehlshaber der kurdisch dominierten, bislang eng mit den USA verbündeten Syrian Democratic Forces (SDF).