Tunesien nach der Präsidentschaftswahl

Robocop sucht Verbündete

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Um diese institutionelle »Revolution« durchzusetzen, müsste die 2014 verabschiedete Verfassung geändert werden. Diese gewährt dem tunesischen Präsidenten nur beschränkte Vollmachten, hauptsächlich auf den Gebieten der Diplomatie, der Außen- und der Verteidigungspolitik. Saïed betont regelmäßig, er wolle als Präsident innerhalb des Rahmens der Gesetze und der Verfassung handeln. Für eine Verfassungsänderung wäre allerdings eine Zweidrittelmehrheit im Parlament nötig, weswegen Saïed auf eine Zusammenarbeit mit einer parlamentarischen Mehrheit und einer künftigen Regierungskoalition angewiesen ist.

Hier beginnen Saïeds Probleme, die auch seine stets betonte politische Unabhängigkeit in Frage stellen. Die Parlamentswahlen vom 6. Oktober haben einen Flickenteppich von Abgeordneten diverser Parteien hervorgebracht, die Bildung einer Regierungskoalition ist eine komplizierte Aufgabe. Mit 52 der insgesamt 217 Parlamentsabgeordneten stellt die islamistische Partei al-Nahda die größte Fraktion, sie hat jedoch im Vergleich zu der Wahl 2014, bei der sie 69 Mandate errungen hatte, Sitze verloren. Zweitstärkste Kraft ist die Partei des unterlegenen Präsidentschaftskandidaten Karoui, Qalb Tounès (Herz Tunesiens), mit 38 Sitzen; darauf folgen die sozialdemokratische Partei Courant democratique mit 22 Sitzen sowie die islamistisch-extremistische Koalition al-Karama mit 21 Mandaten. Der Parti destourien libre, der sich in der Nachfolge Ben Alis präsentiert, errang 17 Sitze. Die mit al-Nahda seit 2014 regierende, eher säkulare Partei Nidaa Tou­nès des verstorbenen Präsidenten Essebsi ist nach verschiedenen Spaltungen marginalisiert und erhielt lediglich drei Mandate; 2014 waren es noch 86 gewesen. Der linke Front populaire hat statt der 2014 errungenen 15 Mandate nur noch eines. Der tunesische Politologe Hatem M’rad bezeichnete das Ergebnis der Parlamentswahlen als selbstmörderischen »Wahlnihilismus« und kommentierte: »Man wählt mangels authentischer oder inspirierter Demokraten nicht mehr für die Demokratie oder für Ideen, sondern für Eindrücke, Vermutungen, für das politische Abenteurertum.«

Voraussichtlich wird al-Nahda als stärkste Fraktion mit der Bildung einer Regierungskoalition betraut werden. Wie die Partei eine Mehrheit zustande bringen soll, ist ungewiss. Saïed teilt mit al-Nahda zwar einen religiösen Konservatismus, aber die Partei hängt der repräsentativen Demokratie in einem parlamentarischen System an – schlechte Voraussetzungen für Saïeds institutionelle »Revolution«. Auf die Frage, wie er seinen Mangel an parlamentarischer Unterstützung ausgleichen wolle, antwortete er bei der Fernsehdebatte mit Karoui: »Meine parlamentarische Gruppe ist das Volk.« Enorme politische Spannungen sind programmiert.