Warum Nazis in Deutschland morden können

Wenn der Staat nicht will

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Das wurde nach dem Mord an Walter Lübcke deutlich. So sagte der CDU-­Obmann des Innenausschusses im Bundestag, Armin Schuster, im ARD-Morgenmagazin: »Es wäre der erste rechtsextremistische Mord seit dem Kriegsende, das wäre der erste Politikermord seit RAF-Zeiten.« Schuster war jahrelang Mitglied des NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags, ihm hätte auffallen müssen, dass die Aussage falsch war. Nur merkte der ehemalige Polizist nicht einmal, nachdem die verdutzte Moderatorin wiederholt nachgefragt hatte, dass er offenbar etwas ausgeplaudert hatte, was man bezüglich politisch motivierter Anschläge als deutsche Staatsräson bezeichnen könnte: Erst ein Politikermord gilt als politischer Mord.

Der Staat reagierte und reagiert höchst unterschiedlich auf Terror. Im Kampf gegen die RAF, die Revolutio­nären Zellen und die Bewegung 2.Juni gingen die Behörden an die Grenze des technisch, personell und rechtlich Möglichen. Wenn man es für nötig hielt, wurden Gesetze geändert. Es gab Straßensperren, Hausdurchsuchungen mit entsicherten Waffen und öffentliche Fahndungen. Eine ganze ­Generation wuchs mit den Fotos von Andreas Baader, Ulrike Meinhof und später Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt auf. Sie hingen beim Bäcker, im Rathaus und an Bahnhöfen. Der Fahndungsdruck war enorm und führte am Ende zum Erfolg: Verhaftung folgte auf ­Verhaftung. Im März 1993 verübte die RAF ihren ­letzten Anschlag und sprengte ein sich im Bau befindliches Gefängnis in Weiterstadt, Menschen starben dabei nicht. Seither verübten Linksradikale in der Bun­desrepublik noch zwei politische Morde, die RAF löste sich 1998 auf. Unterdessen töteten extreme Rechte und Jihadisten in Deutschland mehr als 200 Menschen.

Wenn der Staat will, kann er. Nur will er nicht immer. Es hängen keine Fotos von den 500 derzeit mit einem Haftbefehl gesuchten Neonazis beim Bäcker und an den Bahnhöfen. Die bekannte Tatsache, dass Rechtsextreme seit einigen Jahren immer mehr Waffen horten, führt nicht zu Hausdurchsuchungen in großem Maßstab.
Wie lässt sich anders als mit mangelndem Willen zur Aufarbeitung erklären, dass Verfassungsschutzbehörden damit durchkamen, im Zuge der Aufarbeitung der NSU-Verbrechen Akten zu schreddern und nicht freizugeben? Auch nach zahl­reichen parlamentarischen Untersuchungsausschüssen bleiben diesbezüglich noch viele Fragen offen.

Der Staat ist, wenn es darum geht, Ausreden für sein Versagen zu finden, deutlich kreativer als bei der Verfolgung neonazistischer Mörder. Neonazis verfassen meist keine ausführlichen Bekennerschreiben, mit denen sie ihr Handeln begründeten. Aber zumindest, das war eine der Erkenntnisse der NSU-Untersuchungsausschüsse, legen sie Wert darauf, dass ihr eigenes Milieu ihnen ihre Taten zuordnen kann. Sie hinterlassen also Spuren.

Es stimmt, dass es unter extremen Rechten, aber auch Islamisten, sogenannte »einsame Wölfe« gibt: Terroristen ohne feste Anbindung an eine Organisation. Sie sind wesentlich mitteilungsbedürftiger als der NSU, ihr modus operandi orientiert sich am rechtsterroristischen Massenmörder Anders Breivik, der, bevor er 2011 bei Anschlägen in Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen tötete, ein 1 500seitiges Manifest an 1 003 E-Mail-Adressen verschickte. Seit dem Anschlag von Christchurch im März geht der Trend offenbar zur Live-Übertragung solcher Angriffe online.