Jüdisches Leben und Überleben

Wir haben überlebt, lasst uns essen

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Auf unseren Gedenkveranstaltungen betrauerten wir den sinnlosen Verlust von Menschenleben, und wir sprachen für die Ermordeten, Jana L. und Kevin S., während des Gottesdienstes das Kaddisch. In den Medien stritt man sich darüber, ob der Angriff antisemitisch war oder sich gegen die »Gesellschaft als Ganzes« richtete. Was für ein blödsinniges Unterfangen.

Ich erinnere mich an Hannah ­Arendts vorausschauende Beobachtung, dass totale Herrschaft alles menschliche Leben überflüssig mache und zugleich tiefe, kritische Differenzierungen aufweise, die nicht ausgeglichen werden können – eine widersprüchliche Wahrheit, die man im Auge behalten sollte. Die beiden einzigartigen Individuen, die nicht zur jüdischen Gemeinschaft gehörten, aber zur falschen Zeit am falschen Ort erwischt wurden, hat der faschistische Geist auf nichts anderes als überflüssige Materie reduziert, zu Abfall in der Mission, die Juden vom An­gesicht der Erde zu tilgen.

Während wir den sinnlosen Verlust von Menschenleben betrauerten, staunten wir auch über die gerade noch gelungene Vermeidung eines Massakers. Doch das Wunder des Überlebens sollte über eines nicht hinwegtäuschen: Ja, sie haben versucht, uns Jüdinnen und Juden (wieder einmal) zu töten. Und doch haben wir überlebt. Ein paar von uns tun das immer. Wir staunten über das Wunder einer einfachen Holztür, die dem Bösen Einhalt geboten und ein Massaker in der ungeschützten Synagoge verhindert hatte.

Auf dem Weg ins Krankenhaus, um wegen des Schocks behandelt zu werden – knapp dem Tod entkommen –, sangen die Überlebenden der Gemeinde im Bus »Das jüdische Volk lebt ­weiter« und tanzten. Bei Einbruch der Dunkelheit versammelten sie sich in der Krankenhauskantine, beendeten die Feiertagsgebete, bliesen den Shofar (das Horn des Widders), was das Ende von Yom Kippur signalisiert. Sie brachen ihr Fasten zu und tranken dazu Bier.

Der Kampf gegen den Antisemitismus ist immer auch der Kampf gegen die Reduzierung des Lebens auf bloße Materie, auf eine ärmliche Auffassung von »Natur«, »Rasse«, Blut, Arbeit und Macht. Folglich muss auch der Kampf um die Selbstbestimmung des Lebens vorrangig sein. Deshalb bejahen wir nach dem Verderben und der Errettung das Leben. Wir lehnen die Objektivierungen und Projektionen von ­Antisemitinnen und Antisemiten, aber auch von gutmeinenden Antifaschistinnen und Antifaschisten – etwa als reine Opfer oder Heldinnen – ab und behaupten uns als Subjekte der Geschichte durch die Erneuerung unserer Traditionen. Deshalb war es sinnvoll, nach dem Angriff auf die Synagoge »Tree of Life« in Pittsburgh vor einem Jahr in den USA »alle raus zum Sabbat« zu rufen. Denn es ist diese schöpferische Unterbrechung von Zeit und Raum, eine Störung des Alltagslebens und der Arbeit, die Pause von Gewohnheiten, die die Welt verändert. Anstelle von Verwertung und Instrumentalisierung kann die kompromisslose und einfache Lebensbejahung ein notwendiger Teil der Weltverbesserung sein, des tikun olam, oder weltlich ausgedrückt, ein Teil davon, die Welt »ganz zu machen«, wie Ernst Bloch ausdrückte. Dass ein ähnlicher Aufruf wie in den USA nicht in Deutschland nicht hörbar wurde, mag viel über die gesellschaftlichen Unterschiede der beiden Länder aussagen, aber es bedarf hierzulande auch keiner einfachen Nachahmung. Es gibt viel zu tun, aber manchmal gilt es, erst einmal innezuhalten und eine Unter­brechung einzufordern. So verkünden und heiligen wir das Leben, denn zu ­leben ist unser Kampf. Also lasst uns essen.

Aus dem Englischen von Carl Melchers und Nicole Tomasek.