Das Politikum »­Sesamstraße«

Das Monster als Revolutionär

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Eine möglicherweise zutreffende Anaylse. Denn der vielleicht radikalste Charakterzug der »Sesamstraße« war schon immer ihr sozialer Anspruch. Von Anfang an zielte die Sendung auf Kinder armer Familien in städtischen Milieus – diejenigen, die in Straßen zwischen Mülltonnen spielten. Die Show startete nach den Aufständen in überwiegend von Afroamerikanern bewohnten Armenvierteln Washingtons, Baltimores, Clevelands und Chicagos, ein Jahr nach der Ermordung von Martin Luther King. Chester Pierce, ein Harvard-Professor, der die Black Psychiatrists of America gegründet hatte, war einer der Berater der Sendung. Im Jahr 1969, fünf Jahre nach der Verabschiedung des Civil Rights Act und ein Jahr, nachdem Captain Kirk Lieutenant Uhura in »Star Trek« geküsst hatte, war es gewagt, wenn nicht radikal, afroamerikanische mit weißen Charakteren gleichzustellen – und nicht mehr bloß als Entertainer oder Bedienstete zuzulassen. Im Bundesstaat Mississippi wurde die Sendung daher 1970 sogar für einige ­Wochen aus dem Fernsehprogramm verbannt.

»Es ist nicht einfach, grün zu sein«, erklärt Frosch Kermit entmutigt und beklagt die Farbe seiner Haut. Er würde es vorziehen, zum Beispiel rot oder goldfarben zu sein. Bald merkt er jedoch, dass es auch schön ist, grün zu sein: »Es ist die Farbe des Frühlings. Ich glaube, es ist das, was ich sein will.«

Die »Sesamstraße« war in gewisser Weise revolutionär in ihrer Pädagogik. Die Show kennzeichnet einen Wendepunkt im Denken von Kinderpsychologen und Erziehern – zu einer Zeit, als Experten gerade den Glauben aufgaben, dass kognitive Fähigkeiten vollständig vererbt seien. Noch heute sorgt der Sesame Workshop als Nachfolger des Children’s Television Workshop dafür, dass sich die Serie samt ihren vielen Ablegern die Originalität bewahrt. Eine eigene Forschungsabteilung bereitet erwiesenermaßen korrekte Informationen pädagogisch passend auf.

Die Produzentin Joan Ganz Cooney ist eine derjenigen, die der »Sesamstraße« von Anfang an zum Erfolg verhalfen. Am 30. November 2019 wird sie 90 Jahre alt. Natürlich haben auch die Jim Henson Company und ihre Muppets der Serie zu ihrem weltweiten Erfolg verholfen. Immer wieder kamen reale Prominente als Gäste in die Sendung, darunter Johnny Cash, Alice Cooper und Michelle Obama. Neben den menschlichen Bewohnern wie Gordon Robinson, dem afroamerikanischen Lehrer, der von Beginn die Sendung prägte, und dessen Ehefrau Susan, der Krankenschwester und working mum, leben in der Straße zahlreiche Puppen. Charaktere mit Einschränkungen und diverser sexueller Orientierung, Hauptdarsteller aus sogenannten Minderheiten – die »Sesame Street« vereint alle.