Der Ökonom Manuel Sutherland über die Krise in Venezuela

»Die Reformen waren ein Reinfall«

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Interview Von

Mitte Oktober wurde der Mindestlohn von umgerechnet zwei auf etwa 7,50 US-Dollar pro Monat erhöht. Wie überleben die Venezolanerinnen und Venezolaner mit ­derart niedrigen Einkommen?
Im staatlichen Sektor gibt es indirekte Extrazahlungen in Form von Boni und anderen Vorzügen wie Kantinenessen, Zugang zu Lebensmittelkisten oder auch der Zuweisung einer Wohnung im Rahmen des staatlichen Wohnungsbauprogramms Misión Vivienda. Im Privatsektor zahlen praktisch alle Unternehmen mehr als den Mindestlohn, doch auch das ist meist viel zu wenig. Viele Menschen erhalten zudem Rücküberweisungen von migrierten Familienmitgliedern oder versuchen, sich irgendwie etwas nebenher zu verdienen.

Die Anhebung des Mindestlohns hat bisher stets zu mehr Inflation geführt. Was wäre nötig, um den Mindestlohn wieder auf ein existenz­sicherndes Niveau zu bringen?
Innerhalb der Linken ist die Überzeugung verbreitet, die Regierung könnte einfach eine kräftige Erhöhung dekretieren. Das funktioniert aber nicht, wie wir vergangenes Jahr gesehen haben. Die einzige Möglichkeit, den Mindestlohn nachhaltig anzuheben, ist, die Produktivität zu erhöhen.

Alleine schon aufgrund des schlechten Zustands der Infrastruktur etwa bei der Strom- und Wasserversorgung oder im öffentlichen Nahverkehr sind enorme Investitionen nötig. Wie kann Venezuela aus der Situation herauskommen?
Auch wenn es die Linke schmerzt: Den derzeitigen Zustand der Ökonomie haben Strukturen verursacht, die der Chavismus seit 2003/2004 geschaffen hat. Dies hat die enorme Korruption und Plünderung der Erdölrente ermöglicht. Der Dollarkurs wurde künstlich niedrig gehalten, um die Importe zu verbilligen. Das hat gleichzeitig der heimischen Produktion geschadet und dafür gesorgt, dass enorm viel Geld ins Ausland transferiert wurde. In der jetzigen Situation ist es unmöglich, dass die Regierung aus eigener Kraft dieser Krise entkommt, sie verfügt über keine Instrumente dafür. Die Lösung kann nur in einem per Dialog ausgehandelten Übergang bestehen, der die Basis für eine Erholung der Wirtschaft legt.

Wie wahrscheinlich ist eine solche Dialoglösung?
Sie ist unvermeidbar. Dafür braucht es aber eine moderate Opposition und ­einen moderaten Chavismus, das heißt die extremen Strömungen beider politischen Lager müssten außen vor bleiben. Die rechte Opposition verfügt innerhalb Venezuelas über keine wirkliche Macht. Andererseits hat die Regierung keine Möglichkeit, die Sanktionen zu beenden. Vor allem jene Chavisten, die gute Geschäfte machen, wollen, dass Maduro geht. Auch wenn Maduro es nicht verdient hat, muss ihm ein gesichtswahrender Abgang ermöglicht werden. Freiwillig wird die Regierung die Macht nur an eine ihr näherstehende Opposition abgeben, die anschließend weitere Wirtschaftsreformen durchführt, den Verteidigungsminister aber im Amt belässt.