Die Geschichte der Sexualität nach Michel Foucault

Let’s Talk About Sex

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Es ist auffällig, wie deutlich sich Foucault in diesem vierten Band jeder expliziten Bezugnahme auf ideologische Systeme, die außerhalb seiner Texte über die Spätantike liegen, ­sowie auch des Gebrauchs der Begrifflichkeiten seiner eigenen Macht- und biopolitischen Theorie enthält. In seinen Lektüren patristischer ­Texte zeigt Foucault eindrücklich, wie sich der Fokus des Redens über Sexualität in einer Jahrhunderte ­andauernden Bewegung von der Ökonomik hin zu einem komplexen Selbstbezug bewegt. Er macht die Buße und die Askese als Techniken der fortwährenden Selbstbeobachtung aus, die im Bereich des allgemeinen Gemeindelebens und des monastischen Lebens zu der Vorstellung ­einer Subjektivität führen, die bestrebt ist, in der Sexualität ihren sich ständig entziehenden Untergrund aufzusuchen, und das Subjekt in Instanzen aufspaltet und zugleich die Verantwortung für diese Instanzen übernimmt.

Von der Antike zur Moderne

Ohne dass Foucault dies je explizit machen würde, zeignen sich in der von ihm herausgearbeiteten frühchristlichen »Geschichte der Selbst­erfahrung« deutliche strukturelle Analogien zu derjenigen Theorie der Sexualität und des Subjekts, gegen die derselbe Autor im ersten Band von »Sexualität und Wahrheit« als eine Agentur der Disziplinierung polemisiert hatte: zur Psychoanalyse. Offenbar, so legen Foucaults Lektüren nahe, gelangten mit der patristischen Beschäftigung mit dem Sex und dem Selbst im Modus der Theologie und der Moral Strukturen der menschlichen Psyche in den Blick, die die Psychoanalyse später im Modus von Therapie und Theorie und mit gänzlich anderem Interesse dem religiösen Nebel entreißen sollte. Besonders deutlich wird dieser Umstand in Formulierungen Foucaults, die auf die Begegnung des Subjekts mit dem Anderen in ihm selbst abheben: Das monastische Subjekt befindet sich in einem »geistigen Kampf«, der »eine Auseinandersetzung mit dem Anderen, eine Dynamik von Bewegungen« ist, »die von der Seele zum Körper gehen und umgekehrt«; das Andere als die sinnlichen Impulse, die vom Körper ausgehen und in der Psyche repräsentiert werden, und die Freud als den Trieb fassen wird. Doch das Andere tritt auch als der Andere auf, als der Widersacher Satan, dessen »Vorhandensein« man »tief in sich« entdeckt. Die Diskussionen über den sexuellen Selbstbezug des Subjekts kulminieren in Foucaults Darstellung von Augustinus’ philosophischer Neuinterpretation des Sündenfalls, die für eine christliche Ethik der ehelichen Sexualität von zentraler Bedeutung ist. Die Interpretation des biblischen Mythos führt bei Augustinus zu einem Verständnis des Begehrens als einer unwillkürlichen Macht, die – paradoxerweise – das Wollen des Subjekts okkupiert: Das Wollen des Subjekts nimmt die Form des unwillkürlichen Begehrens an.

Im vierten Band von »Sexualität und Wahrheit« wird also implizit der Übergang zwischen der Antike und der Moderne viel deutlicher hervorgehoben als der große Bruch, den der erste Band explizit betonte. Damit kann der vierte Band auch Argumente gegen bestimmte regressive Interpretationen des ersten Bandes an die Hand geben, wie sie nicht zuletzt im deutschen Sprachraum vom am wenigsten komplexen Teil der Queer Studies vertreten werden. Die Abgrenzung der modernen disziplinierten von einer antiken Sexualität hat öfters zu dem Missverständnis geführt, in dieser Vorzeit hätten paradiesische Zustände geherrscht. Das ist eine absurde Annahme. Wer die an Foucault anschließenden Forschungen des Klassischen Philologen David Halperin zur Kenntnis genommen hat, weiß, dass es sich bei der antiken griechischen um eine Kultur handelte, die zwischen freien Männern einerseits und allen anderen – Frauen, Knaben, Sklaven – ­andererseits unterschied und jenen erlaubte, diese zu penetrieren, ­diesen aber das Recht verwehrte, sich dem zu entziehen. Eine solche ­Kultur muss man als rape culture bezeichnen.