Die Geschichte der Sexualität nach Michel Foucault

Let’s Talk About Sex

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Postfoucaultscher Kulturrelativismus

Diesen Sachverhalt zu ignorieren, ist zunächst nicht unbedingt schädlich: Ob die griechische Antike als rape culture oder als sexuelles Paradies verstanden wird, muss für die zeitgenössische Gesellschaft nicht von allzu großem Belang sein. Doch Autoren wie Georg Klauda, Zülfukar Çetin und Heinz-Jürgen Voß in Deutschland und – worauf der Soziologe ­Michael Bochow hingewiesen hat – Joseph A. Massad in den USA hat es dazu verleitet, das Missverständnis über das Davor um ein Missverständnis über ein Woanders zu erweitern: Denn im Rahmen eines postkolonialen Ansatzes lässt sich die moderne Sexualität nicht nur von der antiken abgrenzen, sie lässt sich auch als »westlich« beschreiben und von einem islamischen Gegenüber abgrenzen.

Kryptoorientalisten wie Klauda, Çetin und Voß scheinen in der islamischen Welt »vor der Kolonialisierung« bessere sexuelle Zustände entdeckt zu haben. So bindet Klauda in seinem von Foucault inspirierten Buch »Die Vertreibung aus dem Serail« seine 30 Jahre nach Foucault nicht eben originelle Beobachtung, dass sich die Kategorien Homosexualität und Heterosexualität nicht ohne weiteres auf islamische Gesellschaften (gestern wie heute) übertragen lassen, durchgehend und in penetranter Weise in eine anti­imperialistische Argumentation ein. Sexualität im Islam erscheint in Klaudas Sicht als weniger stark »heteronormalisiert«; dass sie dafür umso schärfer patriarchal organisiert ist, unterschlägt er. Was nun als ­weniger heteronormativ erscheint, schlägt Klauda der islamischen ­Tradition zu, alles Repressive lastet er dagegen dem »westlichen Im­perialismus« an. An Klauda anschließend schreiben Çetin und Voß in ­ihrem Buch »Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität« (Jungle World 47/2016): »Die sich in der Türkei aktuell zeigende und unter der AKP-Regierung intensiv zuspitzende Homo- und Transfeindlichkeit der staatlichen Organe (vom Präsidenten bis zur Polizei) speist sich ganz offenbar nicht aus einer ›Tradition‹, sondern es handelt sich um ein ›modernes‹ Phänomen – die Türkei hat vom kolonisierenden Europa gelernt.«

Dazu wäre anzumerken, dass das Osmanische Reich beziehungsweise die Türkei seit der Eroberung Konstantinopels 1453 in keiner Weise von irgendwelchen anderen Europäern kolonisiert wurde, sondern ganz im Gegenteil selbst beispielsweise den Balkan und den arabischen Raum kolonisierte; davon abgesehen zeugt die hier und bei Klauda klar implizierte Behauptung, vor dem vermeintlichen Import der Homosexuellenfeindlichkeit sei in der Türkei für Männer, die Sex mit Männern haben, oder andere nicht (nur) heterosexuell Lebende irgendetwas besser gewesen, von einer von »antikolonialem« Interesse geleiteten Ausblendung des Elends der gleichgeschlechtlichen Praxis unter den Bedingungen islamisch-patriarchaler Strukturen, einschließlich der sexuellen Gewalt gegen Jungen.