Die Geschichte der Sexualität nach Michel Foucault

Let’s Talk About Sex

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Aus Foucaults Beobachtung, dass am Ende der Antike ein Übergang stattfand – von den aphrodisia zum »libidinisierten« Sex –, folgt nicht, dass die antike Sexualität freier gewesen wäre; und auch nicht, dass die Sexualität in nichtchristlichen Gesellschaften freier wäre. Das patriarchale Regime der Sexualität, wie es in der griechischen Antike und im islamischen Raum anzutreffen ist, basiert auf jenem System des mediterranen Patriarchats, wie es Pierre Bourdieu anhand der nordafrikanischen Kabylei exemplarisch herausgearbeitet hat und wie es noch die moderne »westliche« Sexualität als »androzentrisches Unbewusstes« heimsucht. Die griechische Antike und die islamische Vormoderne waren sexuell unfrei, nur waren sie es in anderer Weise, als es Sexualität heutzutage ist. Die moderne, angeblich »westliche« Sexualität ist demgegenüber ein Fortschritt. Bei der Phantasie von einer freieren islamischen Sexualität handelt es sich erstens um Orientalismus und zweitens um die Apologie einer rape culture. Die Ignoranz ­gegenüber der Vergewaltigung, die eine direkte Folge der Beschränkung der Analyse auf das Sprechen über Sexualität ist, ist vielleicht zugleich ein zentraler Vorwurf, den man Foucaults Sexualitätsgeschichte machen muss.

Denn eines ist seit der Antike relativ konstant geblieben, nämlich eine gesellschaftliche Konstellation, die bei Foucault kaum je in den Blick gerät: das Patriarchat. Es verhinderte eine freie Sexualität in der Antike und verhindert sie heutzutage in der ­islamischen Welt. Und es ist auch im sogenannten Westen wirksam und verursacht Gewalt und Leid – freilich eingeschränkt durch den gesellschaftlichen Fortschritt, den es heute gegen Angriffe von mehreren Seiten zu verteidigen gilt.

Es ist weder zielführend, sich Foucaults Thesen, gerade denen aus dem ersten Band von »Sexualität und Wahrheit«, kritiklos anzuschließen, noch sein sexualitätshistorisches Projekt in Bausch und Bogen abzulehnen. Es geht darum, seine Provokation von einem materialistischen und universalistischen Standpunkt aus anzunehmen und an ihr das Denken über Sexualität zu schärfen.

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit – Vierter Band: Die Geständnisse des Fleisches. Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. Suhrkamp, Berlin 2019, 556 Seiten, 36 Euro