Rafael Puente über die Eskalation in Bolivien

»Es war kein Putsch«

Rafael Puente, Pädagoge und Kolumnist, über die Lage in Bolivien nach dem erzwungenen Rücktritt von Präsident Evo Morales.
Interview Von

Die Nachrichten aus Bolivien sind widersprüchlich. Im Lager des am 10. November zurückgetretenen Präsidenten Evo Morales ist von einem Putsch die Rede. Aus dem bürgerlichen Lager heißt es hingegen, dass drei Wochen protestiert worden sei, um die Demokratie zu verteidigen. Welcher Version stimmen Sie zu?
Bei einem Staatsstreich ist es nicht üblich, den Präsidenten zum Rücktritt aufzufordern. Das war aber der Fall, er wurde nicht mit Waffengewalt aus dem Amt geputscht. Das ist der erste Einwand.
Zu einem Staatsstreich gehört auch im Allgemeinen der Waffeneinsatz durch Armee und Polizei, auch den hat es so nicht gegeben. Die Polizei und die Armee haben dazu aufgerufen, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, um Schäden an öffentlichen Gütern und an Personen zu vermeiden. Auch das verbindet man in aller Regel nicht mit einem Putsch.
Zudem wurde nach dem Rücktritt von Evo Morales und zahlreicher Mandatsträger seiner Partei, der Bewegung zum Sozialismus (MAS), händeringend nach einem Ausweg gesucht, um im Einklang mit der Verfassung eine neue Regierung aufzustellen. Das hat 48 Stunden gedauert, und eine solche verfassungsgemäße Übernahme der Macht steht im Widerspruch zu der Behauptung, es handele sich um einen Putsch. Ich bin ausgesprochen froh, dass sich die Armee, anders als in der Geschichte Boliviens, diesmal passiv und verfassungskonform verhalten hat. Das ist ein Fortschritt.

Es ist Ihnen zufolge also kein Putsch, sondern eine verfassungsgemäße Neukonstituierung der Regierung. Gegen sie gehen aber viele Anhänger des MAS auf die Straße.
Das Problem war, dass viele MAS-Abgeordnete und Mandatsträger mit dem Rücktritt der Regierung auch zurückgetreten sind. Es gab ein Vakuum und letztlich musste man erst einmal die Verfassung studieren, um zu eruieren, wer denn einer Interimsregierung vorstehen könnte. Das war ein Punkt. Der andere ist, dass die Verfassung vorschreibt, dass der Rücktritt des Präsidenten vom Parlament angenommen werden muss. Dazu muss es erst einmal zusammentreten. Das war der Grund, weshalb es ein Machtvakuum gab.
In La Paz wurde am Donnerstag vergangener Woche gegen die neue Regierung demonstriert. Ist die neue Präsidentin, Jeanine Áñez, legitimiert?
Formal ist die Situation relativ klar. Wir haben eine Übergangsregierung, die dafür verantwortlich ist, Wahlen herbeizuführen. Evo Morales hat von 2006 bis zum Tag seines Rücktritts am 10. November regiert und entgegen der Verfassung und dem Referendum vom 21. Februar 2016 für eine vierte Amtszeit kandidiert. Bei den jüngsten Wahlen vom 20. Oktober – das haben die Wahlbeobachter der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in allen Punkten bestätigt – gab es Wahlbetrug. Das hat Morales anerkannt, er hat bestätigt, dass die Wahlen annulliert werden, und Neuwahlen angekündigt. Zu diesem Zeitpunkt gab es aber schon seit genau drei Wochen große Proteste gegen den Wahlbetrug und die Regierung. Polizei und Armee kündigten an, sich neutral zu verhalten und Morales nicht zu stützen, worauf er sich zum Rücktritt entschlossen hat.
Nun ist es die Aufgabe der Übergangsregierung unter Jeanine Áñez, die Wahlen herbeizuführen, und damit hat sie begonnen. Das Wahlgericht, dessen Aufgabe es ist, die Wahlen zu organisieren und sie transparent abzuhalten, soll neu besetzt werden. Auch das spricht nicht für einen Putsch.

 

Morales hat behauptet, er sei in Bolivien seines Lebens nicht mehr sicher. Er hatte sich in seine Herkunftsregion, die Provinz Chapare, zurückgezogen, bevor er nach Mexiko ins Asyl ging. Wurde er wirklich bedroht?
Ich weiß von keinen Drohungen gegen Morales. Ich weiß nur von dem Asylangebot der mexikanischen Regierung. Morales, sein Stellvertreter Álvaro García Linera sowie eine dritte, mir unbekannte Person haben dieses Angebot angenommen – ohne Not.

Morales hat aus dem mexikanischen Exil angeboten, zurückzukehren, um die Lage zu beruhigen, wenn das »Volk« ihn rufe. Hat das einen gegenteiligen Effekt?
Der MAS hat fast 14 Jahre lang regiert, sich unbesiegbar gefühlt und hatte eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, konnte also schalten und walten, wie er wollte. Das ist nun vorbei und genau das ist schwer zu verdauen, weshalb etliche MAS-Anhängerinnen und -Anhänger für die Rückkehr von Morales plädieren und auf die Straße gehen; manche von ihnen mit sehr martialischen Parolen und einige gewaltbereit.

Die Übergangsregierung ist recht einseitig besetzt – von der konservativen Rechten. Ist das eine Konsequenz der Rücktritte der Abgeordneten und Mandatsträger des MAS?
Ja, fast alle Minister des MAS sind zurückgetreten und auch die Vorsitzenden und Vizepräsidenten in beiden Kammern des Parlaments. Es gab also kaum mehr Personal des MAS, das Verantwortung hätte übernehmen können und wollen. Die logische Konsequenz ist, dass diese Übergangsregierung, die jedoch allein das Mandat hat, die Wahlen zu gewährleisten, konservativ gefärbt ist. Das macht mir aber keine großen Sorgen und ist eine Folge der Verweigerungspolitik des MAS.

Rechte Parteien haben in den vergangenen Wochen einen Aufschwung erlebt, allen voran in Santa Cruz, der größten Stadt des Landes. Dort ist der Vorsitzende des rechtskonservativen Bürgerkomitees von Santa Cruz (Comité Cívico de Santa Cruz), Luis Fernando Camacho, zu einem Gesicht des Widerstands geworden. Er ist ein konservativer, bibelfester Anwalt. Droht in Bolivien eine ­weitere Polarisierung?
Die Rechte ist nur dank der Fehler von Evo Morales wieder zu einem Faktor geworden. Die Regierung Morales hat viele Bolivianerinnen und Bolivianer enttäuscht und der Personenkult um Morales hat dazu geführt, dass der MAS zurzeit ohne Kandidaten dasteht. Er ist zu einer Partei ohne Führung geworden, einer Ansammlung von Jasagern, die sich um eine Führerfigur versammelten, die neben sich keine anderen duldete.
Wegen dieser Konstellation denke ich, dass die Rechte beste Chancen hat, die Wahlen zu gewinnen. Ich hoffe allerdings auf die gemäßigte, bürgerliche um Carlos Mesa. Dafür ist Morales persönlich verantwortlich. Er hat sich de facto selbst zum Präsidentschaftskandidaten ernannt, obwohl die Verfassung das verbietet. Das war ein gravierender Fehler. Dem folgte mit dem organisierten Wahlbetrug der zweite Fehler. Wer anders als der MAS war dafür verantwortlich? Das hat der Rechten Auftrieb gegeben, aber die Geschichte beginnt früher.

 

Wann?
Als Morales damit begann, Machterhaltungspolitik zu betreiben, Vertreter der Rechten in Regierungspositionen zu holen, und politische Inhalte in den Hintergrund traten. Viele Entscheidungen, so die Ausweitung der Anbaugrenze für die Landwirtschaft zulasten des Regenwalds, waren Konzessionen an die Agrarindustrie, die im Tiefland von Santa Cruz sitzt. Dabei wurde auch der Einsatz von transgenem Saatgut in Kauf genommen.

Das widerspricht allen politischen Grundsätzen der ersten Regierungsperiode von 2006 bis 2010. Wie kam es dazu?
Die erste Regierungsperiode war exzellent und die beste, die Bolivien je erlebt hat. Damals wurden die bonos, die Sozialprogramme für Rentner und Schwangere, aufgelegt sowie Bildungsvorhaben und die neue progressive Verfassung verabschiedet. Mit der zweiten Regierungsperiode ab 2010, in der Morales eine Zweidrittelmehrheit im Parlament hatte, begann er, immer weniger Rücksicht auf die Umwelt zu nehmen – er hat das vivir bien, die Idee vom Leben in Harmonie mit der Natur, verraten und eine sehr konven­tionelle, auf der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen basierende Politik verfolgt.

Vor allem das Erdgas ist der Motor der bolivianischen Ökonomie. Doch die Reserven neigen sich dem Ende zu. Droht der Absturz?
Ja, denn die Verschuldung des Staats ist gestiegen und es wurde in den vergangenen acht, neun Jahren viel Geld ausgegeben für wenig sinnvolle Dinge, von überflüssigen Flughäfen über eine Atomenergiebehörde bis zu Präsidentenlogen auf den Flughäfen des Landes. Wir stehen am Anfang einer ökonomischen Krise.

Wie lassen sich die Polarisierung innerhalb der Gesellschaft und die wachsende Gewalt auf den Straßen zurückdrängen?
Das ist unmöglich. Die militanten Anhänger von Morales im Chapare, der Kokaregion Boliviens, aber auch in anderen Städten sind mobilisiert. Meine Hoffnung ist, dass Polizei und Armee die Situation unter Kontrolle behalten und die Regierung stützen. Seit Beginn der Proteste gab es bislang 23 Tote. In den ersten beiden Wochen gab es acht gezielte Morde an Oppositionellen. Nach Morales’ Rücktritt und dem blutigen Aufeinandertreffen von Cocaleros (Kokabauern), MAS-Anhängern und Ordnungskräften starben mindestens neun MAS-Anhänger durch Schußwaffeneinsatz. Ich hoffe, dass es nicht mehr werden.