Massendemonstrationen im Irak

Vereint im Protest

Die Proteste, die den Rücktritt der Regierung und grundlegende Reformen im Irak fordern, gehen trotz Repression und mittlerweile über 300 Toten weiter. Sie richten sich auch gegen den Einfluss des Iran, wo es nun ebenfalls Massenproteste gegen das Regime gibt.

Das Durchschnittsalter der irakischen Bevölkerung beträgt laut World Factbook der CIA 20,2 Jahre, die überwältigende Mehrheit der Irakerinnen und Iraker ist also unter 30 Jahre alt. Wie in so vielen anderen Ländern der Region gehören sie einer Generation an, die bisher nur Missstände, Perspektivlosigkeit und Unterdrückung durch eine politische Führungsschicht erlebt hat, die außer scheinheiligen Reden und der Verbreitung von Hass sehr wenig zu bieten hat. Nur scheint das ganze Gerede von Religion, nationalem Stolz und gemeinsamem Kampf gegen ­irgendwelche Feinde, das jahrzehntelang dazu beitrug, die Atmosphäre im Nahen Osten zu vergiften, diese Generation wenig zu beeindrucken. Denn trotz des brutalen Auftretens der Ordnungskräfte gehen im Irak weiterhin Hunderttausende auf die Straße und fordern den Rücktritt der Regierung und grundlegende Reformen (Jungle World 41/2019).

Es geht um noch mehr. Das brachte jüngst ein Demonstrant in Bagdad mit einem selbstgemalten Schild auf den Punkt, auf dem stand: »Die Trennung von Staat und Religion ist viel besser als die Trennung von Mann und Frau.« Dies ist nur einer von vielen Slogans, die sich gegen den Einfluss des Klerus und vor allem des iranischen Regimes auf die irakische Politik richten; es wird sogar so etwas wie eine Kulturrevolution gefordert. Noch nie seien so viele Frauen an Protesten im Irak beteiligt gewesen, stellen Beobachter fest – sogar in schiitischen Hochburgen im Süden des Landes. In den sozialen Medien kursierte das Bild eines jungen Paares, das sich in Straßenkampfmontur auf dem Tahrir-Platz in Bagdad ablichtete, und das Foto mit der Überschrift »Liebe in Zeiten der Revolution« ins Netz stellte. Die beiden wurden zu einem Symbol dieser neuen Proteste, ebenso wie die Fahrer der dreirädrigen Tuk-Tuk-Taxis, die unter Einsatz ihres Lebens Schwerverletzte in Krankenhäuser transportieren.

Zum ersten Mal seit Jahrzehnten spielt es offenbar keine oder kaum noch eine Rolle, aus welcher Gruppe der irakischen Gesellschaft man stammt. Darin ähnelt diese Protestbewegung derjenigen im Libanon (Jungle World 45/2019). In beiden Ländern prägte bislang die Zugehörigkeit zu Konfession oder Ethnie so gut wie alle Lebensbereiche. Demonstrierende stellen nun oft selbst erstaunt fest, wie unwichtig es zu sein scheint, ob jemand schiitisch oder sunnitisch, kurdisch oder anderes ist. Sie alle sammeln sich unter einer Fahne, die mit ihrem »Allahu Akbar«-Schriftzug und den alten panarabischen Farben eigentlich kaum als revolutionäres Symbol für einen neuen Aufbruch taugt. Und doch ist es diese Fahne, die neuerdings versinnbildlicht, was in Tränengasschwaden auf Iraks Straßen gefordert wird: eine Republik, in der allein die Staatsangehörigkeit und nicht Konfession oder Ethnie den Einzelnen definiert, in der Religion vom Staat ­getrennt und die Geschlechter gleichgestellt werden sollen. N