Die linken Regierungen Lateinamerikas haben sich selbst demontiert

Der Fluch des Reformismus

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Auf den ersten Blick haben die Proteste in den Ländern nicht viel miteinander gemein. Zu sehr sind die jewei­ligen Krisen Resultate spezifischer Konflikte. Auch politisch gibt es auf dem Kontinent keine klare Richtung. Die Region ist derzeit in mehrere politische Allianzen mit unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Vorstellungen aufgeteilt. 

Nimmt man weitere Länder in den Blick, wie das bereits erwähnte Venezuela, das um Frieden und Demokratisierung ringende Kolumbien oder Brasilien unter dem rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro (siehe Seite 4), dessen Vorvorgänger und Kontrahent Luiz Inácio »Lula« da Silva vor kurzem auf Anordnung des Obersten Gerichts aus dem Gefängnis entlassen wurde, wird das Bild noch unklarer. In Peru liefern sich der Präsident und die Legislative einen Machtkampf, zugleich findet in Argentinien, das in ­einer schweren Wirtschaftskrise steckt, eine demokratische Amtsübergabe ­eines rechten an einen linken Präsidenten statt.

Jüngst sah es so aus, als fände die Zeit linker Regierungen, die um die Jahrtausendwende begonnen hatte, ein Ende. In Mexiko und Argentinien regieren jedoch bereits beziehungsweise bald Linke, in Venezuela klammern sie sich gewaltsam an die Macht; wie es in Bolivien und Chile weitergeht, kann derzeit niemand vorhersagen. 

Den Staaten Brasilien und Argentinien, die als Wirtschaftsraum auch politisches Gewicht hatten, steht eine schwierige Zusammenarbeit bevor. Bolsonaro hat bereits angekündigt, er habe keine Skrupel, den gemeinsamen Wirtschaftsbund Mercosur zu verlassen, wenn er seiner Politik entgegenstehen sollte. Alberto Fernández, der am 10. Dezember in Buenos Aires das Präsidentenamt übernehmen soll, flog nach seinem Wahlsieg zuerst nach Mexiko. Der dort regierende Andrés Manuel López Obrador hat unterdessen dem zurückgetretenen Evo Morales Zuflucht gewährt und wird eher zu den linken Staatsoberhäuptern gerechnet (siehe Seite 5).