Die linken Regierungen Lateinamerikas haben sich selbst demontiert

Der Fluch des Reformismus

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Zur Geschichte der linken Regierungen gehört auch die Reaktion ihrer Gegner. Eine tiefe soziale, oft ethnisch aufgeladene Spaltung prägt die meisten Gesellschaften Lateinamerikas. Anders als in Europa wurde der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit kaum sozialdemokratisch eingehegt. Traditionell kreolisch oder europäisch geprägte Mittel- und Oberschichten stehen Bevölkerungsmehrheiten gegenüber, denen Indigene, Nachfahren afrikanischer Sklaven und europäischer Arbeitsmigranten angehören. In der Vergangenheit kannte die herrschende Klasse vor allem zwei Mechanismen der Herrschaftssicherung: Wahlbetrug und Diktatur. Als nach der Demokratisierungswelle der achtziger Jahre mit etwas Verzögerung Mehrheiten für linke Regierungen zustande kamen, war die politische Rechte zunächst paralysiert. Sich der Demokratie zu fügen, fiel ihr vielerorts schwer. Und das Entsetzen darüber, dass jene, die bisher nur Schuhe und Wohnungen putzten, plötzlich in den Einkaufs­zentren auftauchten, saß tief.

Die Ablehnung wurde tradiert, zugleich haben die Rechten das demokratische Spiel gelernt. Der konservative Mauricio Macri gewann in Argentinien eine Wahl, Piñera in Chile wurde sogar zweimal gewählt. Dass diese Demokratisierung indes nur partiell ist, zeigt das Beispiel Brasilien. Der Sturz Rousseffs war ein Staatsstreich und Bolsonaros Wahl war zwar an sich sauber, doch nur möglich, weil sein Kontrahent Lula ins Gefängnis kam. In Bolivien hat die Rechte Morales’ Sturz geschickt ausgenutzt. Ob sie sich an der Macht hält, wird sich zeigen. Vorige Woche blockierten Gegner der Interimsregierung wichtige Verbindungsstraßen, wodurch in der Hauptstadt La Paz Erdgas und Benzin knapp wurden. Lebens­mittel mussten eingeflogen werden.

Doch selbst wenn eine neue rechts Regierung auf demokratischem Weg an die Macht kommt, werden sich die unteren Klassen, mit neuem Selbst­bewusstsein ausgestattet, längst nicht mehr alles gefallen lassen. Wie so oft in Lateinamerika wird dann wohl die Rolle des Miltärs ausschlaggebend sein. In Bolivien steht es auf Seiten der rechten Opposition. In Brasilien sitzen ehemalige Angehörige der Streitkräfte bereits in den Ministerien. Bolsonaro selbst ist ein ehemaliger Fallschirmjägerhauptmann und sein Vizepräsident Hamilton Mourão war früher ein General.