Sophie Calles Kolumnen erscheinen bei Suhrkamp

Der radikale Flirt

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Calle, die damals 30 Jahre alt war, wird mittlerweile zu den wichtigsten Konzeptkünstlerinnen der Gegenwart gezählt. 1953 als Tochter einer Chirurgin und eines Kunstsammlers geboren, trieb sie sich in Paris eine Weile als Barfrau und Stripteasetänzerin herum, bevor sie auf eine län­gere Weltreise ging, auf der sie zu fotografieren begann. Ihr Interesse galt von Anfang an der Enthüllung des Privaten, dem kalkulierten Tabubruch und dem Übertreten der Grenze zwischen Kunst und Leben. 

Pierre D. war nicht der erste Mann, den Calle im Rahmen einer Kunstaktion verfolgte. In einem frühen Fotoprojekt, das sie nach eigener Aussage ausführte, um ihren Vater zu beeindrucken, folgte sie einem unbekannten Mann klandestin auf seiner Reise nach Venedig. Um ihm nah zu sein, ließ sie sich in dem Hotel, das er bezogen hatte, als Zimmermädchen anstellen. In seinem Zimmer fotografierte sie die persönlichen Sachen und Spuren, die der Mann hinterließ. Calle trieb damit das beliebte Spiel der surrealistischen Flaneure weiter, die sich bei ihren Wanderungen durch Paris gern an die Fersen von Passanten hefteten, um deren Laufwege nachzugehen.

Spätere Arbeiten drehen sich um die Selbstentblößung. Als Calles Partner per E-Mail mit ihr Schluss machte, zeigte sie das Schreiben 100 Frauen, darunter einer Juristin, einer Psychologin und einer Graphologin. Sie sollten nicht nur ihren Schmerz teilen, sondern den Text und den Verfasser auch aus ihrer professionellen Warte analysieren. Für die wohl intimste Arbeit filmte Calle das Sterben ihrer Mutter, die der Aufzeichnung vorher ausdrücklich zugestimmt hatte.

Pierre D., von dem sich herausstellte, dass er über ein abgeschlossenenes Philosophiestudium verfügte, als Filmdozent, Autor und Kleindarsteller in Erscheinung getreten war, wurde hingegen ungefragt zum Protagonisten einer vielbeachteten Fortsetzungsgeschichte. Was als poetische Recherche beginnt, nimmt bisweilen pornographische Züge an, weil sich die Verletzlichkeit D.s immer mehr enthüllt. »Lebt er allein?« fragt Calle eine Freundin D.s. »Sehr allein«, antwortet diese.

Auch wenn Calle sich nicht als explizit feministische Künstlerin versteht, ist in ihrer Arbeit die Geschlechterkonstellation von Belang. Das ­radikale Flirten mit dem abwesenden D. ist ein kalkulierter Akt der Überschreitung mit vertauschten Rollen. D.s Vergeltung wiederum, von der man im Nachwort erfährt, ist die rollenkonforme Rache eines Mannes an einer Frau, der die verkehrte Ordnung wiederherzustellen versucht. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund gegenwärtiger Debatten um Einvernehmlichkeit entfalten die Nachstellungen Calles noch immer ihre verstörende Wirkung. »Das ­Adressbuch« ruft aber auch ein radikales Verständnis von Kunst ins ­Gedächtnis, dem verletzte Gefühle nicht zur Maßgabe des Erlaubten taugten.

Sophie Calle: Das Adressbuch. Aus dem Französischen von Sabine Erbrich. Suhrkamp, Berlin 2019, 105 Seiten, 22 Euro