»Frauen fließen, Männer schießen«
Etwas »epochal« zu nennen, gilt zum Glück – im Gegensatz zum inflationär verwendeten Adjektiv »legendär« – als eher altmodisch; deshalb darf man den Begriff wohl getrost verwenden, wenn er denn geboten erscheint: Zur Kennzeichnung der »Männerphantasien« Klaus Theweleits jedenfalls ist »epochal« genau richtig, was ihre Funktion und Wirkung angeht, so richtig wie das Attribut »monströs«, was ihre Form betrifft. Denn Theweleits 1976/1977 zunächst als Dissertation an der Universität Freiburg eingereichte Schrift stellt ein collagenartiges Konvolut von länglichen Zitaten aus Landserromanen und Briefen von Soldaten und Freikorpsmilizionären dar, deren literarisch-mentale Vorgeschichte bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgt wird; ein Konvolut von Comics, Fotos, Kommentaren, die diese Zitate verknüpfen; ein Konvolut aber auch von hochverdichteten und ambitionierten »Szenen« oder »takes« genannten Einschüben, die hin und wieder den mäandernden Textstrom unterbrechen und in der Summe kaum Geringeres anstreben, als eine Art anthropologischer »Theorie der Gewalt« vorzulegen.
Die »Männerphantasien« sind Vorreiter des rechtsrheinischen Postmodernismus und widersprechen ihm doch zugleich auf eine merkwürdige, nachgerade freudianische Weise.
»Summa cum laude« lautete die Note für Theweleits Dissertation (Originaltitel: »Freikorpsliteratur. Vom deutschen Nachkrieg 1918–1923«), ein Lehrauftrag am Institut für Soziologie aber blieb ihm trotz der großzügigen Vergabekriterien jener Jahre zunächst verwehrt – wohl wegen »ungezügelter Intelligenz«, wie es in einer universitären Sonderbeurteilung zu Theweleits Eignung hieß. Dieser akademische Rückschlag aber hinderte die zweibändige, knapp 1.200 Seiten starke Buchveröffentlichung seiner Doktorarbeit nicht im mindesten, die Feuilletons wie die Sachbuch-Charts des Winters 1977/1978 zu dominieren.
Es war ein zumindest in diesem Ausmaß unerwarteter Erfolg. Der kleine Verlag Roter Stern des vormaligen SDS-Vorsitzenden KD Wolff, der die »Männerphantasien« publizierte, kam mit dem Drucken und Binden kaum hinterher. Wer ein Exemplar ergatterte, verschlang es und bewachte es gut; wohl nicht eine einzige der sich damals gründenden Männergruppen kam ohne festen Theweleit-Lesetermin aus. Dabei waren die Reaktionen im linksstudentischen Milieu, das sich erst allmählich mit dem neumodischen Etikett »alternativ« zu schmücken begann, auf Theweleits »Psychoanalyse des weißen Terrors«, wie der Untertitel des zweiten Bandes lautete, geteilt (»weiß« meint hier nicht etwa die Hautfarbe, sondern die Symbolfarbe der Konterrevolution in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg). Während sich das lebensreformerisch orientierte Spontimilieu, das etwa den Frankfurter Pflasterstrand las, sich von Theweleits radikal subjektivem, ja selbstbezüglichem Stil und seiner Betonung individueller seelischer Entwicklung beziehungsweise Verkümmerung bestätigt fühlte, waren genau diese Eigenschaften marxistischen Autoren jedweder Couleur, vom Sozialistischen Büro bis zum Kommunistischen Bund Westdeutschland, ein Gräuel. Gerd Koenen beispielsweise bezeichnet noch in seiner Rückschau auf das »rote Jahrzehnt« Theweleit als »berserkerhaften Psycho-Apokalyptiker«, der, auf der »Nadelspitze des eigenen Erlebens … ein Pandämonium von Körpern & Unkörpern, Tätern & Opfern, Males & Females, Köchinnen & Menschenfressern« eingerichtet habe.
Einhellig war die Begeisterung hingegen in den Hauspostillen des linksliberalen Bürgertums von Frankfurter Rundschau bis Spiegel: Indiz wohl auch dafür, dass die Beschäftigung mit dem Innenleben der zuvor vorherrschenden klassischen Sozialkritik den Rang abzulaufen begann; der »Psychoboom«, wie ihn schon Zeitgenossen nannten, folgte auf den zu Ende gehenden Wirtschaftsboom und legte die Grundlage für das seither expandierende Geschäft mit Glück und Gesundheit. Im Spiegel (50/1977) jedenfalls erschien eine achtseitige Rezension von Rudolf Augstein höchstpersönlich: Der Herausgeber wünschte sich von Theweleit unter dem Titel »Frauen fließen, Männer schießen« am liebsten gleich noch ein therapeutisches Patentrezept, wie man die Welt von den »kranken Männerphantasien« heilen könne.
»Kranke Männerphantasien« als Ursache allen Weltenübels anzusehen, das mutet geradezu hochaktuell an. Das Bedürfnis, gesellschaftliche Krisen nach einem geschlechtlichen Raster zu pathologisieren, ist in den über 40 Jahren, die vergangen sind, seit Augstein seine Lobeshymne auf Theweleits Buch verfasste, eher stärker geworden. Schon in dieser Hinsicht können die »Männerphantasien« als epochal gelten – im Sinne der Prägung des Denkens und Sprechens kommender Jahrzehnte –, weil sie sich gut benutzen ließen, um das Signalwort »Mann« als jedem spezifisch sozialgeschichtlichen Kontext enthobene quasi psycho-ontologische Erklärung von allerlei Missliebigem zu etablieren und damit auch gleich – für den ehemaligen SS-Mann Augstein auch persönlich nicht unwichtig – den Faschismus als rein therapeutisch-pädagogisch zu behandelnde Fehlentwicklung und Reifungsstörung zu universalisieren und somit zu entsorgen.
Solcherlei wurde in die »Männerphantasien« keineswegs bloß hineininterpretiert, die Tendenz liegt in der Eigenart des Werkes selbst. Theweleits Durchforsten seines Quellensammelsuriums nach Begriffen, die die Körper- und damit Weltvorstellung des »soldatischen Mannes« ausmachen – aus dessen Sicht negativ als zu Bannendes, ja Auszumerzendes: Feuchtigkeit, Schlamm, Schleim, Brei, Fließendes, und positiv: Härte, Geradlinigkeit, Leere, Reinheit, Ordnung –, ist durchaus fruchtbar als psychohistorische Studie darüber, wie Männer verzweifelt und mit buchstäblich aller Gewalt gegen sich und vor allem andere versuchen, die ersehnte nichtambivalente, nicht mit »Weiblichkeit« verunreinigte »Männlichkeit« herzustellen. Wofür das Buch so dankbar aufgenommen wurde von den Augsteins, als neuartige Faschismusanalyse nämlich, darin aber versagt es. Denn warum der »soldatische Mann« deutscher Bauart Konzentrationslager baute, sein alliiertes Pendant sie aber befreite, bleibt völlig offen; warum und wie der Nationalsozialismus auf unvergleichliche Weise jene »inneren Zustände in riesige äußere Monumente« verwandelt, wie Theweleit es an sich treffend charakterisiert, bleibt ebenso unklar. Die Faschisten, von denen Theweleit spricht, sind nebulös, die historische Kategorie verschwindet hinter einer Art überzeitlichem Archetyp der Misogynie und Gewaltneigung.
Unter theoretischen Gesichtspunkten entspringt diese bemerkenswerte Ort- und Zeitlosigkeit von Theweleits »Faschismus« der Verabsolutierung der »Wunschmaschine«, die Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem 1974 auf Deutsch erschienen »Anti-Ödipus« konzipiert hatten, eine Vorstellung vom Unbewussten, bei der dessen Wünsche sich jeglicher Sublimierung entzögen und sich mit maschineller Unerbittlichkeit quasi seriell immer aufs Neue und immer gleich wieder herstellten. Den Antrieb dieser Maschine findet Theweleit wiederum bei der US-amerikanischen Psychoanalytikerin Margaret Mahler, die die aggressiven »Erhaltungsmechanismen« präödipaler Vorstellungen bei psychotischen Kindern erforscht hatte, mit der diese ihre Individuation, insbesondere die Ablösung von der Mutter zu verhindern suchen: Theweleit nennt das, was bei Mahler als Ich-Werdung bezeichnet werden könnte, als »Zu-Ende-geboren-Werden«; der soldatisch-faschistische Mann, der sich nur mit Gewalttaten gegen die bedrohliche Weiblichkeit, das Versinken im »Schlamm« der Sexualität zu wehren vermag, sei demnach »noch nicht zu Ende geboren«, verharre sozusagen im »präödipalen Orbit«, wie es Jessica Benjamin in einem Text zur US-Ausgabe der »Male Fantasies« (1987/1989) ausdrückte.
Epochal – im Sinne von stilbegründend – war Theweleit also auch insofern, als er für Deutschland den Sieg der Semiotik über die Soziologie, letztlich den linguistic turn der Gesellschaftswissenschaften methodisch vorwegnahm, ohne ihn jedoch programmatisch zu postulieren. Dennoch bleiben die »Männerphantasien« im positiven Sinne zwiespältig, sind zwar Vorreiter des rechtsrheinischen Postmodernismus und widersprechen ihm doch zugleich auf eine merkwürdige, nachgerade freudianische Weise. Denn die Körper haben bei Theweleit wirklich Gewicht, er schreibt Körpergeschichte: Die »Männerphantasien« benennen die somatisch-sexuelle Quelle der analysierten Vorstellungen; die »Männerphantasien« betonen auf nahezu schmerzhafte, monoton-eindringliche Weise die pathologische Konsequenz, die es zeitigt, wenn Körper zu bloßen Trägern einer abgeschlossen Vorstellungswelt, einer idée fixe, eines Diskurses, wie man heute sagt, erniedrigt werden. Auf gruselige Weise gemahnen so diverse »kontrasexuelle« Manifeste der Gegenwart an die Zwangsvorstellungen des soldaischen Mannes von der gereinigten, desexualisierten Welt.
Der heftige Widerstand des Körpers gegen seine Befriedung, die Verweigerung der Sublimierung des »unerhellten Triebs« (Adorno) zugunsten seines blutigen Ausagierens in Straforgien, die Theweleit analysiert, zwingen eben auch dazu, diese Antriebe ernst zu nehmen – und sich zu erinnern, welch fragile Konstruktion und gewaltige individuelle wie gesellschaftliche Aufgabe es ist, Libido und Zivilität miteinander, so gut es eben geht, ins Benehmen zu setzen. Die Angst vor der Lust und die Lust an der Angst gehören heute wieder sehr eng zusammen, scheint es: ein trauriger guter Grund, sich diesem Buch wieder zu überlassen, denn lesen im herkömmlichen Sinn des Wortes lässt es sich schwerlich.
Klaus Theweleit: Männerphantasien. Matthes & Seitz, Berlin 2019, 1 278 Seiten, 42 Euro