Mehr Einheit im Kampf gegen Antisemitismus

Gegen Dogma und Denunziation

In der Antisemitismusforschung gibt es eine beunruhigende Tendenz zur Fraktionsbildung. Dem Kampf gegen den Antisemitismus kann diese Entwicklung nur schaden.
Disko Von

Mit Blick auf die Karriere und das mentale Wohlbefinden ist es keine sonderlich gute Idee, Antisemitismusforschung zu betreiben. Der Forschungsgegenstand selbst bietet wenig Erfreu­liches. Inzwischen ist aber auch das Arbeitsumfeld jener, die den Antisemitismus beforschen, von schonungslosen Aus­einandersetzungen gezeichnet. Simon Castles Beitrag zu Peter Ullrichs Gutachten über die »Arbeitsdefinition Antisemitismus« der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) ist ein neuerliches Beispiel dafür, wie vergiftet die Debatte mittlerweile ist. In diesem ­Beitrag soll es nicht darum gehen, das Gutachten und besagte Definition zu diskutieren. Castles Text steht vielmehr für eine Tendenz, Diskussionen überhaupt nicht mehr zu führen – und zwar nicht etwa mit Nazis, sondern mit Personen, die einem eigentlich recht nahe stehen müssten, weil sie den Anti­semitismus bekämpfen wollen. Doch es dominiert der identitäre Kampf ­gegen andere Fraktionen.

Das betrifft nicht nur die Antisemitimuskritik im Allgemeinen, sondern zusehends auch die Antisemitismusforschung. Auch wenn sich die meisten Beteiligten bisher nicht auf eine Seite geschlagen haben, wird das immer schwerer. Der Raum für kritische Diskussionen über Interpretationen, ­Definitionen, Analysen wird kleiner. Der Grund dafür liegt vor allem in der starken Orientierung der Antisemitismusforschung an öffentlichen ­Debatten. Sie ist im Prinzip sinnvoll, denn Deutschland ist und bleibt das Land, das die Shoah verbrochen hat, und Umfragen zeigen, dass ein Zehntel oder gar ein Drittel der Bevölkerung unterschiedlichen Ausprägungen von Judenhass anhängt. Die Erwartung an die Forschung, Erklärungen und Lösungen zu liefern, ist hoch. Doch durch die Orientierung an politischen Debatten färbt einiges von diesen auch auf Kritik und Forschung ab.

Zum einen verleitet die Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit und simplen Kausalitäten zu vereinfachenden ­Erklärungen eines komplexen Phänomens. Zum anderen haben sich Denkmuster ausgebreitet, die im Kern mindestens dualistisch, meist dichotom, nicht selten sogar manichäisch sind. Damit verbunden greift ein emotional aufgeladenes Freund-Feind-Denken um sich, das Diskussionen mit inhaltlich Nahestehenden, aber als Feinde der ­eigenen Fraktion Markierten unmöglich macht. Die sachliche Debatte wird zur persönlichen Auseinandersetzung. Dazu kommt, dass in diesem Streit nicht mehr rational argumentiert wird. Es kommt darauf an, die richtigen Signalwörter in die Runde zu werfen und so die Zugehörigkeit zur richtigen Fraktion zu beweisen.

Die Ein- und Ausschlüsse folgen dabei keiner sachlichen, sondern einer Parteien- und Institutionenlogik. Corpsgeist verhindert, Fehler oder Irrtümer der Wir-Gruppe zuzugestehen, und ermöglicht, die als Gegner markierten Personen auch mit sachfremden Konstruktionen wie der Kontaktschuld anzugreifen. In dieser Logik ist es Usus, Akteure nicht für das zu beurteilen, was sie sagen oder tun, sondern für das, was ihre Vorgänger, andere Mitglieder derselben Institution oder deren ehemalige Vorgesetzte gesagt oder getan haben beziehungsweise ­haben sollen. Die bizarre Fehleinschätzung Castles, am Zentrum für Anti­semitismusforschung gebe es keine Gegenwartskompetenz mehr, ergibt nur innerhalb der Logik einer solchen Feindbestimmung Sinn.

In den vergangenen Jahren kam es zu einer bemerkenswerten Verschiebung. Obwohl es unstrittig ist, dass die antisemitischen Mörder von Halle und Pittsburgh Rechtsextreme waren, glauben immer mehr Rechte (wie man in Bild und Welt nachlesen kann), dass Antisemitismuskritik ein allein rechtes Vorhaben sein müsse, weil linker und muslimischer Antisemitismus von der linksliberalen Öffentlichkeit verharmlost würden. Sogar manche ­ehemalige Linke glauben, als Antisemitismuskritiker unbedingt rechts werden zu müssen. Und obwohl es unstrittig ist, dass der antisemitische Mörder, der im März 2012 einen Anschlag auf eine jüdische Schule in Toulouse verübte und dabei einen Rabbiner und drei Kinder tötete, und der Attentäter, der im Januar 2015 bei einer Geiselnahme in einem koscheren Supermarkt in ­Paris vier Juden erschoss, Islamisten waren, glauben immer noch einige Linke, dass Antisemitismuskritik als linkes Projekt durch die Zusammen­arbeit mit Islamistinnen und Islamisten ersetzt werden müsse, weil ja Rassismus, nicht Antisemitismus von der bürgerlichen Öffentlichkeit verharmlost werde.

Den größten Schaden nimmt Antisemitismuskritik aber durch ihre Zweckentfemdung für andere Ziele als den Kampf gegen den Antisemitismus, sei es zur Legitimierung von (beispielsweise antimuslimischem) Rassismus oder von autoritären Forderungen (beispielsweise nach mehr Befugnissen für die Polizei, wo es darauf ankäme, die vorhandenen endlich konsequent zu nutzen). Wo die Kritik des Antisemitismus so offensichtlich missbraucht wird, verliert sie an Glaubwürdigkeit und damit an Wirksamkeit. Antisemiten können sich in der Überzeugung bestätigt fühlen, sie seien von der ­Kritik gar nicht gemeint.
Inhaltlich ist die dualistische Fraktionenlogik an der Frage ausgerichtet, was denn gegenwärtig das Hauptproblem in Sachen Antisemitismus sei. Für die einen ist es Antisemitismus von Musliminnen und Muslimen.

Diese Fraktion verweist auf islamistischen Terror und die weite Verbreitung von ­Judenhass in muslimischen Bevölkerungen. Für eine andere heißt das Hauptproblem Rassismus, Antisemitismus ist in ihrer Wahrnehmung nur eine ­weniger wichtige Unterkategorie. Die Angehörigen dieser Fraktion verweisen darauf, dass Muslime und people of color in westlichen Gesellschaften viel häufiger Angriffen ausgesetzt seien als Juden.

Wer sich nun für manichäisches Denken entschieden hat, kann und will ­Beziehungen, Abhängigkeiten und Verflechtungen zwischen den Phänomenen nicht mehr erkennen oder verstehen. Und was man selbst nicht versteht, sollen auch andere nicht ansprechen. So wird, wer Antisemitismus und Rassismus in irgendeiner Form in Beziehung setzt, schnell beschuldigt, die Verharmlosung des Antisemitismus, besonders des muslimischen, im Sinn zu haben. So wird aber auch, wer über das Spezifische des Antisemitismus redet, ähnlich schnell verdächtigt, als Erbe des Kolonialismus den Rassismus kleinreden zu wollen.
Letztlich zählen Argumente aber meist weniger als die Demonstration der Zugehörigkeit zum richtigen Lager.

Ewig ertönt der stalinistische Dreiklang aus Dogma, Denunziation und Disziplinierung. Der Kanon zitierbarer Literatur und Signalwörter ist klar definiert. Abweichende Positionen werden mit gezieltem Missverständnis und Unterstellung zum Feindbild konstruiert, etwa wenn Simon Castle Peter Ullrich vorwirft, die Ächtung des Anti­semitismus zu hintertreiben. Personifizierte Angriffe werden durch fake news ergänzt, wie bei der Denunziation des Direktors des Jüdischen Museums Berlin (JMB), Peter Schäfer, als BDS-Unterstützer. In Reinform vorgeführt wurde das vom Newsletter des bis ­dahin wegen seiner Kritik am europäischen Iran-Appeasement eigentlich verdienstvollen Netzwerks »Scholars for Peace in the Middle East«.

Der ­Beitrag im Juli unterstellte, Schäfer habe einen Beitrag zur Unterstützung der BDS-Kampagne geteilt und die akademische Petition, die den zurückgetretenen Direktor gegen Verleumdungen als Israel- und Judenfeind in Schutz nahm, verteidige BDS »stillschweigend«. Auf die faktischen Fehler in dieser ­Erzählung hingewiesen, reagierte die Redaktion mit einer Sonderausgabe, die dieselben Falschbehauptungen noch zuspitzte. Diese unterstellte dem Jüdischen Museum eine »BDS-unterstützende Politik« und nannte die akademischen Unterstützerinnen und Unterstützer Schäfers eine »Gruppe von BDS-unterstützenden Gelehrten«. Aber so funktionieren autoritäre Strukturen: Fehler werden nicht gemacht und die Disziplin nach innen muss ebenso gewahrt werden wie die Sanktionsdrohung bei Kritik von außen.

Eine solche vermeintliche Antisemitismuskritik ist nicht nur getarnte Identitätspolitik, sondern droht, in manchem auch dem oft und zu Recht verurteilten autoritären Verhalten der Gegenseite ähnlich zu werden. Es wirkt zwar zunächst witzig, wenn dieselben Leute, die regelmäßig die Identitäts­politik dogmatischer antirassistischer oder feministischer Fraktionen kriti­sieren, Identitätspolitik wie aus dem Lehrbuch betreiben.

Es ist aber nur auf sehr bittere Weise witzig, dass auch die autoritäre Absicherung von Gruppengrenzen und ideologischen Gewissheiten denjenigen der Antiimperialisten alter Schule oder mancher postkolonialer Subkulturen gleicht. Und fatal ist es, wie manche Beteiligte nicht bemerken, dass sie genau die autoritären Verhaltensweisen an den Tag legen, deren Analyse in den von ihnen selbst vielzitierten Klassikern sie offensichtlich nicht verstanden haben.
Antisemitismusforschung und -kritik können nicht wie bei einem Fußballverein oder einer Sekte funktionieren, mit kollektiver Identität und Autorität. Auch für die Präventionsarbeit ist es wenig hilfreich, wenn Kritik am Antisemitismus nur dekretiert, aber nicht verstanden wird.

Den autoritären Charakteren manifester Antisemiten kann man zwar nur mit autoritärer Abschreckung Einhalt gebieten. Aber es ist fraglich, ob man so auch jene erreicht, die noch nachdenken können und daher fähig sein müssten, antisemitische Denkmuster bei sich und anderen zu erkennen und entsprechend auch zu ändern. Gerade bei kritisch denkenden Menschen besteht die Gefahr, dass eine autoritär und sektiererisch um­gesetzte, erst recht aber eine für rechte oder neoliberale Diskurse in Dienst ­genommene Antisemitismuskritik Misstrauen und Ablehnung gegen diese provoziert. Die Kritik am Antisemitismus muss von emanzipatorischen Prinzipien ausgehen oder sie ist keine.

Andernfalls setzt ein Teufelskreis ein. Denn auch Menschen mit starkem Nervenkostüm könnten nach einer ­bestimmten Menge denunziatorischer persönlicher Angriffe das Bedürfnis haben, sich in den Schutz der Fraktion zurückzuziehen, selbst dogmatisch und paranoid zu werden und sich der Freund-Feind-Logik zu unterwerfen. Und dann geht das Ganze von vorn los.