Für die Briten sind Parteien wie Fußballvereine

Herz statt Hirn

Für das britische Wahlverhalten sind Faktoren ausschlaggebend, die für Außenstehende kaum nachvollziehbar sind. Das gilt auch für die kommende Parlamentswahl.

Meine Stiefmutter wird 75 und ich fliege (sorry, Greta) zu ihr nach Großbritannien mit meinem ältesten Sohn, um bei einer Überraschungsfeier dabei zu sein. Deutsche machen so etwas nicht, habe ich bemerkt. Ich glaube, Deutsche mögen keine Überraschungen, und außerdem möchten sie gerne sichergehen, dass bei ihrem Geburtstag genug Kartoffelsalat für alle da ist.

Deutschland und Großbritannien – zwei Länder, die sich recht ähnlich sind, aber dann doch ziemlich unterschiedlich. Deutschland hat Wälder und Schulpflicht, Großbritannien immer noch Strandarkaden und Pfadfinder. Manchmal kann ich mich nicht entscheiden, welches Land ich wirklich mehr liebe. Und manchmal kann ich mich nicht entscheiden, welches Land ich mehr hasse.

In der Filiale der Einzelhandelskette WH Smith am Flughafen Stansted sage ich meinem Sohn an der Schlange für den meal deal (ein Sandwich, Pommes und ein Getränk für weniger als drei Pfund), dass ich es immer noch komisch finde, dass es in Deutschland keine meal deals und nur ganz, ganz selten Drei-für-den-Preis-von-zwei-Angebote gibt. »Die Deutschen sind doch so geizig«, sage ich, »das würde denen voll gefallen«.

Ein Mann, der vor uns in der Schlange steht, dreht sich zu mir um und verkündet strahlend in akzentfreiem Deutsch: »Ja, das stimmt, ich liebe meal deals. Immer, wenn ich in London lande, muss ich mir eines kaufen.«

Deutschland und Großbritannien – zwei Länder, die sich recht ähnlich sind, aber dann doch ziemlich unterschiedlich. Deutschland hat Wälder und Schulpflicht, Großbritannien immer noch Strandarkaden und Pfadfinder. Manchmal kann ich mich nicht entscheiden, welches Land ich wirklich mehr liebe. Und manchmal kann ich mich nicht entscheiden, welches Land ich mehr hasse.

Was die Deutschen allerdings nie verstehen werden: Wahlen sind für die Briten wie Fußball, also so etwas wie eine gelebte Religion. Man bleibt bei seiner Mannschaft, man bleibt in der Gemeinde. Man bleibt treu. Viele Briten bleiben sehr treu. Am Tag nach ihrem Geburtstag spricht meine Stiefmutter über die unentschlossenen Wähler, von denen soll es Umfragen zufolge tatsächlich eine Menge geben: »Was ich nicht verstehen kann: Du weißt doch, was in deinem Herzen steht, oder? Du weißt, was du glaubst! Wie kann man sich da ständig umentscheiden?«

Wie sehr viele Briten wählt meine ganze Familie mit dem Herzen, nicht mit dem Gehirn. Meine Eltern, alle vier – meine Stiefmutter, mein Vater, meine Stieftante, meine Mama –, haben wegen des Irak-Kriegs damit gekämpft, nicht mehr Labour wählen zu wollen beziehungsweise nicht mehr zu können. Mein Vater schrieb damals eine sarkastische Bemerkung auf den Wahlzettel, meine Mama wählte die Liberaldemokraten, meine Stieftante wählte gar nicht, meine Stiefmutter wählte mit Bauchschmerzen schließlich doch Labour.

Es gibt eine britische Parteiloyalität, eine Treue, die die Deutschen sich kaum vorstellen können. Loyalität und Treue sind zwei gute Eigenschaften, aber sie verhindern unabhängiges Denken. Diese manische Fussballloyalität führt dazu, dass Labour-Unterstützer nie zugeben könnten, dass der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn unsolidarisch gegenüber den EU-Bürgern in Großbritannien war, oder dass an den Antisemitismusvorwürfen gegen ihn auch nur ein Hauch von Wahrheit sein könnte.

Dieselbe Fußballloyalität ermöglicht Unterstützern der konservativen Tories, so zu tun, als ob es keinen Antisemitismus in Großbritannien gebe – außerhalb der Labour-Partei. Niemand, der sich als Tory bezeichnet, darf zugeben, dass viele Sachen in Labours Parteiprogramm gut sind. Und niemand möchte zugeben, dass der ebenfalls geradezu religiös verehrte Nationale Gesundheitsdienst NHS nach dem EU-Austritt an die USA verkauft würde. Oder dass der »Brexit« an sich eine blöde Idee ist.

Ein kindisches Land mit einer kindischen Bevölkerung: royal family? Kindisch. Die ganzen Warnungen in Supermärkten, du müsstest fünfmal am Tag Obst oder Gemüse essen? Kindisch. Die Debatten im Parlament, die wie rap battles auf Youtube gestaltet werden? Kindisch. Meal deals? Kindisch. Die trotzige Ablehnung einer Einigung mit der EU? Kindisch. Der ganze EU-Austritt? Kindisch.

Wenn die Briten erwachsen wären und die Demokratie nicht wie ein Fußballturnier behandelten, hätte es Premierminister David Camerons Referendum wahrscheinlich nie gegeben. Aber vor allem danach – danach! – hätte man sagen können, dass man eine Einigung finden müsse, damit sich die remainers, leavers, Labour-Parteimitglieder, Labour-Wähler, Tory-Unterstützer (Mitglieder haben die nämlich ohnehin kaum noch), ja sogar die Unterstützer der Schottischen Nationalpartei mit dem Ergebnis abfinden könnten.

Nicht gut finden, aber okay. Dazu war niemand im Parlament bereit und niemand in ganz Groß­britannien erwachsen genug. Jetzt haben wir den Salat. Wenn Premierminister Boris Johnson die Wahl gewinnt, wird es vermutlich eine riesige Auswanderungsbewegung in die EU und nach Indien geben. Es bleibt zu hoffen, dass er nicht gewinnt. Darauf zu spekulieren, dass die Briten erwachsen werden, ist fast so sinnlos wie der EU-Austritt selbst.