Die Hintergründe des ­islamistischen Attentats vom Berliner Breitscheidplatz bleiben ungeklärt

Deckname Murat

Der Bundesnachrichtendienst wusste schon Wochen vor dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016, wie gefährlich Anis Amri werden könnte. Behördliches Versagen und politische Blockade prägen seither die Aufklärung des Falls.

Am 19. Dezember 2016 kurz vor acht Uhr abends sprach jemand im Fahrerhaus eines Sattelzugs folgende Nachricht in ein Smartphone: »Mein Bruder, alles in Ordnung, so Gott will. Ich bin jetzt im Auto, bete für mich.« Der polnische Fahrer war zu diesem Zeitpunkt vermutlich schon tot. Wenige Minuten später starben bei dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz elf Menschen. Weitere 55 erlitten teils schwere Verletzungen. Der jihadistische Attentäter Anis Amri, von dem mutmaßlich die Nachricht stammte, gilt den Sicherheitsbehörden bislang offiziell als Einzeltäter.

BND voll im Bilde
Der Bundesnachrichtendienst (BND) hatte zu diesem Zeitpunkt längst von seinen marokkanischen Kollegen Informationen über Amris Verbindungen zur Terrormiliz IS bekommen. Auch Amris Handynummer hatten sie dem BND mitgeteilt. Recherchen des RBB zufolge informierte der marokkanische Geheimdienst den BND und das Bundeskriminalamt (BKA) im September und Oktober über ein Vorhaben und über jihadistische Facebook-Profile Amris. Das Landeskriminalamt (LKA) Berlin stufte Amri noch im November 2016 als nicht besonders gefährlich ein: Er sei ins kleinkriminelle Drogenmilieu abgerutscht und interessiere sich nicht mehr für die einschlägige Islamistenszene. Eine fatale Fehleinschätzung.

Beamte kamen zum Einsatz, denen weder die Organisationsstruktur und die Vorgehensweise des IS noch dessen zentrale Akteure in Deutschland bekannt gewesen zu sein scheinen.

Der zum 1. März 2018 eingesetzte erste Untersuchungsausschuss des Bundestags erhielt den Auftrag, das Umfeld, die Kontaktpersonen sowie mögliche Mittäter, Hintermänner und Unterstützer des Attentäters auszuleuchten. Er versucht noch immer zu klären, ob die Behörden zu jeder Zeit korrekt handelten. Verarbeiteten und bewerteten sie alle verfügbaren Informationen den rechtlichen Vorgaben entsprechend? Setzten sie alle zulässigen Maßnahmen ein, um den späteren Attentäter dingfest zu machen? Mittlerweile ist bekannt, dass sich dieser nicht erst im Dezember 2016 spontan zu dem Anschlag entschloss, sondern schon seit November 2015 intensiven Kontakt zu Jihadisten pflegte, über Waffen und Terror im Namen des »Islamischen Staats« (IS) sprach. All das geschah, während er unter intensiver Beobachtung der Behörden stand.

Etwa 18 000 Aktenordner, über 100 Gigabyte Videomaterial und die Rohdaten zweier vom Attentäter genutzter Handys stehen für die Aufklärung zur Verfügung. Dieses Material war auch die Grundlage für die Vernehmung von bisher 85 Zeuginnen und Zeugen. Die Bundesregierung versprach zu Beginn der Ausschussarbeit lückenlose Aufklärung. Dieses Versprechen wurde bislang nicht annähernd erfüllt.

Ein dichtes Netzwerk
Der Untersuchungsausschuss führt eine Liste mit Amris Kontaktpersonen. Die rund 120 Personen, die darauf erwähnt werden, stehen den knapp zwei Dutzend gegenüber, die die Bundesregierung zum »Umfeld« zählte, als der Untersuchungsausschuss seine Arbeit aufnahm. Mitverantwortlich für diese Einengung des Personenkreises war die Beamtin H. aus dem Bundesinnenministerium, die anfänglich die Bundesregierung im Ausschuss vertrat. Im Oktober 2018 wurde jedoch bekannt, dass sie als ehemalige Mitarbeiterin des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) selbst einige der relevanten Kontaktpersonen bearbeitet hatte. Ihre regelmäßigen Interventionen bei Fragen zu den von ihr bearbeiteten Personen, darunter zum Beispiel Kamel A. und Boban S., waren ein erster Beleg für den Unwillen der Regierung, konstruktiv an der Aufklärung zu arbeiten. Auf die Frage, warum das Innenministerium eine potentielle Zeugin in den Ausschuss geschickt habe, die dort das Aussageverhalten von Zeugen beeinflusse, sagte ein Vertreter aus Abteilung Terrorismusbekämpfung im Oktober 2019, man habe nicht wissen können, wie weit der Ausschuss den Begriff »Kontaktpersonen des Attentäters« einmal fassen werde. Kamel A. war bis zum Tattag Amris Mitbewohner in Berlin.

Boban S. leitete die salafistische Madrassa-Moschee in Dortmund, wo Amri sich nicht nur zum Jihadisten entwickelte, sondern auch regelmäßig übernachtete. Gemeinsam mit anderen Mitgliedern des Netzwerks um den Hildesheimer Prediger Ahmad A. alias Abu Walaa, der auch als »Statthalter des IS in Deutschland« (Jungle World 46 / 2016) bezeichnet wird, muss er sich derzeit vor dem Oberlandesgericht Celle wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verantworten. Abu Walaa soll ebenso wie der Mitangeklagte und mit Amri ebenfalls bekannte Hasan C. auch immer wieder zu Anschlägen in Deutschland aufgerufen haben. Ein Beamter des LKA Nordrhein-Westfalen sagte als Zeuge aus, dass ohne Zustimmung Abu Walaas keine Anschläge in Deutschland denkbar gewesen seien. Auch die Attentäter des Anschlags auf den Sikh-Tempel in Essen im April 2016 stammten aus dieser Gruppe. Eine Unterstützung aus diesem Netzwerk für Amri scheint daher naheliegend. Die Beamtin H. musste den Ausschuss verlassen. Sie soll im kommenden Jahr wiederkehren, dann jedoch als Zeugin.

Europäische Kontakte
Ebenfalls lange nicht als Kontaktpersonen geführt wurden die mutmaßlichen Jihadisten Magomed-Ali C. und Clement B. Sie wurden erst am 13. Dezember 2018 durch eine Tischvorlage des Generalbundesanwalts zum Gegenstand der Aufklärung. Beide sollen Mitglieder einer europaweit agierenden Terrorzelle gewesen sein, die im Jahr 2016 gleichzeitig Anschläge in Berlin, Brüssel und Paris geplant haben soll. Sie stehen im Verdacht, dabei auch mit Abdelhamid Abaaoud, einem der Drahtzieher der Anschläge von Paris im ­November 2015 und Brüssel im März 2016, Kontakt gehabt zu haben. Clement B. habe sich nur wenige Wochen vor dem Anschlag auf das Kulturzentrum Bataclan und das Stade de France noch mit einem Sprengstoffexperten der Terrorzelle getroffen und sich bei diesem über den Bau von Sprengsätzen informiert. Gemeinsam mit ihrem Komplizen Amri hatten sie in Berlin offenbar das Gesundbrunnencenter als Anschlagsziel in Betracht gezogen. Es wird spekuliert, ob der Breitscheidplatz als Alternativziel diente, nachdem sich Clement B. nach einer fragwürdigen »Gefährderansprache« durch das Landeskriminalamt Berlin, die im Rückblick eher wie eine verunglückte Observation wirkt, nach Frankreich abgesetzt hatte.

Bei B.s Verhaftung im April 2017 fand die Polizei neben Schusswaffen und einigen Kilogramm des Sprengstoffs TATP (Triacetontriperoxid) auch eine Flagge des IS. Er sitzt seither in französischer Untersuchungshaft, gegen Magomed-Ali C. hat das dem Kammergericht Berlin ein Verfahren wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat eröffnet. Inwieweit beide auch von dem Anschlag am 19. Dezember wussten, ist noch unklar.

Unverdächtige Islamisten
Erst eineinhalb Jahre nach dem Attentat erließ der Bundesgerichtshof im Juli 2018 wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Beihilfe zum zwölffachen Mord einen Haftbefehl gegen Meher D., besser bekannt als Telegram-Chatpartner »moumou1«. Die letzten Worte aus dem LKW waren an ihn gerichtet, und dennoch konnte der als Mentor Amris geltende Instrukteur des IS lange Zeit nicht identifiziert werden. Die Kenntnisse des Ausschusses zu seiner Person sind bislang ebenso ­gering wie die über weite­re Kontaktpersonen Amris aus den Reihen des IS in ­Libyen, zu denen dieser im Jahr 2016 nachweislich Verbindungen hatte.

 

Bilel Ben Ammar hingegen war den Behörden von Beginn an als enger Vertrauter Amris bekannt. Die beiden trafen sich noch am Abend vor dem Anschlag. Ben Ammars Vernehmungen durch das BKA nach dem Anschlag erweckt den Eindruck, als hätten die Ermittlungsbehörden nicht ernsthaft versucht, weitere Beweise gegen ihn als möglichen Mittäter zu sammeln. So wurde der Umstand, dass er nach dem Anschlag mehre Tage untertauchte, in den Vernehmungen ebenso wenig thematisiert wie die Fotos vom Breitscheidplatz auf seinem Handy. Er wurde schließlich, noch während die Bundesanwaltschaft ihn der Mittäterschaft verdächtigte, unter dubiosen Umständen abgeschoben. In Tunesien wurde er inzwischen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu acht Jahren Haft verurteilt.

Amri war in jihadistische Netzwerke eingebunden, die alle mehr oder weniger unter dem Dach des IS standen. Nach zwei Jahren Untersuchungsausschuss ist zumindest klar, dass ohne dessen Arbeit die Debatte über Mittäter nicht so weit vorangekommen wäre und die Behörden an einigen Stellen auch auf den Druck aus dem Parlament reagieren mussten.

Von V-Leuten umstellt
Hans-Georg Maaßen, von 2012 bis 2018 Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, hatte gleich in der ersten Sitzung des Innenausschusses nach dem Anschlag betont, Amri sei ein »reiner Polizeifall« gewesen, in dessen Nähe es keine Einsätze von V-Personen gegeben habe (Jungle World 12/2019). Mittlerweile ist bekannt, dass es mindestens einen V-Mann in der Berliner Fussilet-Moschee gab, an dem Ort, wo der Attentäter im Jahr 2016 regelmäßig verkehrte. Offenbar führte das BfV auch eine eigene Personenakte zu Amri, und die zuständige Sachbearbeiterin löste sogenannte Beschaffungsaufträge aus. Gleich mehreren V-Personen wurden im Jahr 2016 Lichtbilder von Amri vorgelegt.

Uneinigeit der Behörden
Rückmeldungen habe es vor dem Anschlag jedoch keine gegeben. So habe auch die »Fussilet-Quelle« Amri erst nach dem Anschlag als Besucher der Moschee identifiziert. Zahlreiche Indizien sprechen dafür, dass das BfV weitere V-Personen im Umfeld des Attentäters eingesetzt hatte. Der Inlandsgeheimdienst fertigte schon im Januar 2016 ein Behördenzeugnis an, in dem mehrere durch eine polizeiliche V-Person des Landes Nordrhein-Westfalen gewonnene Erkenntnisse zu Amri, unter anderem Anschlagspläne, ausführlich dargelegt wurden. Die Polizeiquelle VP01 mit dem Decknamen »Murat« war eng in die Planungen der Abu-Walaa-Gruppe eingebunden und hatte bis ins Frühjahr 2016 Kontakt zum Attentäter. Sie war aber wohl nicht die einzige V-Person, auf die die Ermittler in Nordrhein-Westfalen zurückgreifen konnten. Laut Aussage eines Beamten hätten auch eine V-Person des hessischen Landeskriminalamts und eine V-Person des Landes Berlin Informationen beigesteuert. Anfang 2016 habe man zudem versucht, zwei weitere Quellen heranzuführen. Dafür sollten zuvor von verdeckten Ermittlern angemietete Geschäftsräumlichkeiten verwendet werden.

Auch das BKA soll während des Ermittlungsverfahrens »Eisbär« einen V-Mann eingesetzt haben. Dieser Einsatz richtete sich gegen mehrere Personen, die im Verdacht standen, vom Berliner IS-Terroristen Dennis Cuspert nach Deutschland geschickt worden zu sein, um Anschläge zu begehen. Ein enger Kontakt der Beschuldigten war Amris Vertrauter Bilel Ben Ammar. Im selben Komplex wurde auch ein weiterer fragwürdiger V-Mann-Einsatz bekannt. Die Ereignisse rund um Emanuel P. sorgten dafür, dass sich der Ausschuss für Verfassungsschutz des Berliner Abgeordnetenhauses mit dem Thema »Regelverstöße beim Einsatz von V-Personen im Bereich Islamismus« beschäftigten musste. Die vom Berliner Verfassungsschutz geführte V-Person soll im Sommer 2015 bei dem Versuch geholfen haben, einen damals 16jährigen in das Gebiet des IS zu bringen. Der 16jährige wurde gefasst, gegen Emanuel P. wurde ein Ermittlungsverfahren wegen der Vorbereitung einer staatsgefährdenden Gewalttat eröffnet.

Organisierte Inkompetenz
Zurzeit beschäftigt sich der Ausschuss mit zwei Skandalen. Zum einen stehen erst im Oktober bekannt gewordene Videos eines ausländischen Geheimdiensts im Mittelpunkt, über die die deutschen Geheimdienste die Ermittlungsbehörden erst mit erheblicher Verzögerung informierten. Woher die Videos genau stammen, wollen die Behörden bis heute nicht sagen. Der ­Inlandsgeheimdienst, welcher im November 2016 damit beauftragt wurde Hinweise des marokkanischen Geheimdienstes auf Amri abzuklären, will entsprechende Informationen erst nach dem Anschlag erhalten haben. Diese Angabe ist fragwürdig, gibt es doch in anderen Fällen die Praxis partnerschaftliche Dienste beim Vorliegen von Informationen über geplante Anschläge zeitnah zu informieren.

Ein leitender Beamter des nordrhein-westfälischen LKA gab in seiner Vernehmung zu Protokoll, es habe aus dem BKA im Februar 2016 eine Art Anweisung gegeben, die erwähnte Polizeiquelle VP01 abzuziehen, da für diese ein zu großer Aufwand nötig sei. Außerdem habe das BKA sich vehement gegen ein vom nordrhein-westfälischen LKA gestelltes Ersuchen auf Verfahrensübernahme gewehrt. Bisher hatte das BKA ein solches Ersuchen immer bestritten und sich für die Bearbeitung von Amri de facto für nicht zuständig erklärt. Bisherige Zeugenvernehmungen vermitteln ein Bild, nach dem in Berlin Beamte zum Einsatz kamen, denen weder die Organisationsstruktur und die Vorgehensweise des IS noch dessen zentrale Akteure in Deutschland bekannt gewesen zu sein scheinen.

Einfach weiter so
Die bisherigen zwei Jahre Aufklärungsarbeit förderten erhebliche Defizite bei Polizeibehörden und Geheimdiensten zutage. Wie üblich beim Versuch parlamentarischer Aufklärung wurden auch hier Akten geschwärzt, wichtige Dokumente beschwiegen, mutmaßlich sagten auch Zeugen die Unwahrheit. Bei Bedarf behauptet die Bundesregierung auch auf schlicht eine konsequente Aufklärungsarbeit gefährde Sicherheitsinteressen. Die Opposition klagte erfolgreich vor dem Bundesgerichtshof auf Herausgabe weiterer ­Geheimdienstakten. Die Entscheidung über eine Vernehmung der Quellenführer des Inlandsgeheimdienstes steht vor dem Bundesverfassungsgericht noch aus. Es zeigt sich: Das Problem »Quellenschutz vor Täterschutz« ist nicht auf rechten Terror beschränkt. Beim polizeilichen Vorgehen fallen erhebliche Kompetenzdefizite bei eingesetzten Beamten auf. Das Ignorieren einschlägiger Fachliteratur zum Verhalten anschlagsbereiter Jihadisten, das Übersetzen abgehörter Telefonate mit Google und um 17 Uhr endende Observationen sind nur einige erschreckende Beispiele. Nach dem Anschlag war kein großer Eifer zur Ermittlung von Mittätern, Unterstützern und Hintermännern zu erkennen, denen in Deutschland ein Prozess wegen zwölffachen Mordes gemacht werden müsste.