Die widersprüchliche ­Liebe der Briten zum staatlichen Gesundheitssystem NHS

Man behandelt sogar erkältete Polen

Die Briten lieben ihren National Health Service so sehr wie die Deut­schen ihren Wald. Doch selbst das hat den Wahlsieg Boris Johnsons nicht verhindert.

Ende November war ich zu Besuch bei meiner Mama in Ost-London. Ich war mir sicher, dass Boris Johnson keinen überwältigenden Wahlsieg feiern können würde. Wahrscheinlicher, dachte ich, wäre eine Koalitionsregierung, vielleicht sogar eine Koalition von Labour und Scottish National Party. Wenn Jeremy Corbyn die Wahl gewänne, den »Brexit« verhinderte oder zumindest sehr sanft gestaltete und den National Health Service (NHS) bewahrte oder gar verbesserte, könnte ich nach Hause ziehen. Seit 19 Jahren lebe ich in Deutschland, aber Ost-London ist immer noch mein Zuhause.

Mein Bruder seufzte und sagte: »Ich verdanke mein Leben dem NHS.« Zu sagen, dass man sein Leben dem NHS verdanke, ist eine geläufiges Thema für den Small Talk im Vereinigten Königreich, so wie unter Deutschen der Austausch von Geschichten darüber, wie anstrengend es gewesen ist, im Meldeamt einen Termin zu bekommen. Mein Bruder verdankt dem NHS aber tatsächlich sein Leben. Mit acht Jahren war er mit seinem Arm durch die gläserne Küchentür gebrochen. Er hat dabei, so haben es die Ärzte erzählt, vier Pints Blut verloren, die Hälfte des Bluts in seinem kleinen Körper. Ich stellte mir das damals in Milchflaschen vor. Es gab nicht genug Platz für mich im Krankenwagen, und das letzte, was ich hörte, war, wie mein Bruder einem Sanitäter sagte, dass er Fan von Manchester United sei, und der andere Sanitäter rief: »Bringen Sie ihn weiter zum Reden, Mum!«

Meine Mama sagte nach meinem Bruder: »Ich verdanke auch mein Leben dem NHS.« Das stimmt. Seit ihrem elften Lebensjahr ist sie zuckerkrank, seit etwa 15 Jahren hat sie Multiple Sklerose. Jeden Tag kommt eine Krankenschwester um ungefähr neun Uhr vorbei, um ihre Blutwerte zu messen und das Insulin zu geben. Meine Mama liegt da, in ihrem Bett im Wohnzimmer, und der NHS hält sie am Leben.

Dann sagte meine Tante: »Ich verdanke meine beiden Leben dem NHS. Als ich Bob war, haben sie meinen Krebs geheilt, und danach haben sie mir ermöglicht, als Daphne zu leben.« Ich lachte und war sicher, dass Johnson es nicht schaffen würde.

Es ist schwer, die britische Liebe zum NHS zu verstehen. Sie bedarf einiger Erklärung: In einem Land, in dem das Wort »solidarisch« nicht geläufig ist; in dem viele denken, dass Behinderten die Sozialhilfe gekürzt werden sollte, wenn sie gesund genug sind, um in einen Freizeitpark zu gehen; wo es eine Telefonnummer gibt, bei der man seinen Nachbarn verpetzen kann, wenn er zum Jobcenter geht, aber am frühen Abend mit Farbklecksen auf der Hosen heimkommt – in diesem Land gibt es ein Gesundheitssystem, das nicht nur solidarisch ist, sondern tatsächlich ­sozialistisch.

Ich bin Sozialistin, trotzdem hat mich die britische Liebe zum NHS immer ein bisschen genervt. Als unsere Freundin Helena Devonshire mit 16 von der Schule abging, um zwei Tage in der Woche als Rezeptionistin in einer NHS-Tagesklinik zu arbeiten und sich drei Tage die Woche als Kinderkrankenschwester ausbilden zu lassen, wurde sie zickig. Sie kam immer zu spät zu Treffen, stöhnte die ganze Zeit darüber, wie müde sie sei, schnaubte die Kellnerin an. »Gott«, sagte ich, als sie aufs Klo ging, »ist die zickig geworden«. »Jacinta!« rief meine Freundin Jamie schockiert. »Sowas darfst du nicht sagen. Du bist noch in der Schule und Helena ist NHS-Mitarbeiterin!«

Der NHS und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter genießen religiöse Verehrung. Die Qualität der Versorgung gibt dafür keinen Anlass. Ich wurde in Deutschland schwanger, während ich unversichert war, aber direkt nach der Heirat war ich familienversichert und merkte, dass meine deutsche Krankenkasse bessere Leistungen bietet als der NHS.

»Ihr habt eine Krankenversicherung in Deutschland, oder?« fragte mich mein Bruder im November. Üblicherweise interessiert sich meine Familie nicht für den Alltag in Deutschland, aber dass Johnson vielleicht den NHS an Donald Trump verkaufen könnte, weckte Neugier. »Wie viel zahlst du dafür?« »Fast 200 Euro im Monat«, antwortete ich. Meine Familie japste schockiert. »So wird das hier auch sein«, sagte meine Mama verbittert. »Bald. Bald wird es hier so sein. Und dann werde ich sterben. Ich sterbe sofort.«

Ich fühlte mich sehr deutsch, war genervt. »Das Jobcenter zahlt für Menschen, die das nicht zahlen können«, erklärte ich. »Das britische Jobcenter wird das nie zahlen«, sagte meine Mama wütend. Das ist es wohl, was man in Deutschland nicht verstehen kann. Der NHS hat den Sozialstaat ersetzt. »Diese Gebühr«, sagte ich, »ist auch für Ryan und Lenny. Ich kriege bestimmt viel mehr als ich einzahle. Die zwei sind ständig krank.« »Und musst du für deine Rezepte selbst bezahlen?« »Ja«, sagte ich, »ein bisschen.« Meine Fa­milie seufzte, als hätte ich gesagt, in deutschen Kindergärten dürften nur Pädophile eingestellt werden. Für Rezepte bezahlen!

Ich finde den NHS nicht viel schlimmer als das deutsche System, solange es nicht um die Zähne oder die mentale Gesundheit geht. Ich glaube, dass beim NHS eine geringere Zahl lukrativer, aber unnötiger Operationen empfohlen wird als in Deutschland. Ich finde es schlimm, dass kranke Kinder herzlos weggeschickt werden, nur weil ihre Mutter, eine verpeilte Künstlerin, ein Formular nicht ausgefüllt hat. Ich verstehe nicht, warum die Deutschen es okay finden, dass Obdachlose unversichert sind. Aber der NHS ist überlastet und die Menschen sind wütend.

»Die Polen sind solche Hypochonder«, sagte mir einmal die Schwester meiner Trans-Tante. »Sie bringen ihre Kinder wegen jeder Erkältung zur Notaufnahme, stehen ganz früh auf, kriegen alle Plätze! Dann reden sie im Wartezimmer ganz laut! Auf Polnisch! Dein Blut kocht. Wenn du hier leben würdest, hättest du auch für den Brexit gestimmt.«

Ich saß da, eine Britin, die ihr halbes Leben in Deutschland verbracht hat: Mandelentfernung, zwei Kaiserschnitte, eine sinnlose Nasenscheidenwanddingsbumsierung, Polypen raus beim älteren Kind, ADHS-Therapie –ich habe mich nie schuldig gefühlt, weil ich als Ausländerin in Deutschland ­solche Leistungen in Anspruch genommen habe.

Ich war, wenn ich ehrlich bin, nie besonders dankbar, anders als die Britinnen und Briten dem NHS – aber ­offenbar glauben sie, dass sie ihn nicht verdient hätten. Am Tag der Wahl rief mich ein Kumpel an und fragte, ob es schlimm sei, wenn künftig ein Krankenversicherungssystem komme. Ich heulte. Wenn ein System den NHS ­ersetzen sollte, wird es nicht so solidarisch sein wie das deutsche Krankenkassensystem, bei dem es sich wohlgemerkt um ein Zweiklassensystem handelt. Ich dachte immer, die britische Liebe zum NHS wäre größer als der Hass auf die EU. Ich lag falsch. Die Briten könnten beides verlieren.