Interview mit Hannes Heer über die großen Geschichtsdebatten in Deutschland

»Es ist eine Sisyphusarbeit«

Interview Von

Die deutsche Nachkriegsgesellschaft habe sich bei der Analyse der NS-Zeit für eine Politik der Amnestie und Amnesie entschieden, konstatieren Sie. Gibt es einen roten Faden, der sich durch die Jahrzehnte der Auseinandersetzungen und des Verdrängens zieht?
Verdrängt ins Unbewusste wurde nichts, sondern bei hellem Bewusstsein setzte sofort nach dem Krieg ein Prozess der massenhaften Verleugnung und Freisprechung ein: Die Schuld an den Verbrechen in der NS-Zeit wurde Adolf Hitler und einer kleinen Clique von Tätern zugeschrieben, während man selbst davon nichts gewusst habe und erst recht nicht daran beteiligt gewesen sei. Das führte letztlich dazu, dass selbst die Wehrmacht, die mit ihren 19 Millionen Angehörigen eine zentrale Rolle im Vernichtungskrieg und beim Judenmord gespielt hatte, als »einziger anständiger Verein« im »Dritten Reich« bezeichnet werden konnte, um den ehemaligen Offizier und Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) zu zitieren. Gegen dieses Geschichtsbild konnte sich die Wahrheit nur in Form ununterbrochener Tabubrüche durchsetzen. Um das aufzuzeigen, habe ich (für die Reihe »Der Skandal als vorlauter Bote: Die großen deutschen Geschichtsdebatten«; Anm. d. Red.) zehn exemplarische Fälle aus 60 Jahren Skandalgeschichte der Bundesrepublik ausgewählt. Das beginnt mit den Reaktionen auf »Nacht und Nebel«, den Film von Alain Resnais aus dem Jahr 1956, und endet in der Gegenwart bei Thilo Sarrazin.

»Der Walser-Skandal ist aus meiner Sicht die zentrale Schnittstelle in dem Prozess, der zur Bildung gewaltbereiter Nazi-Strukturen und von Pegida sowie zur Gründung der AfD durch Gauland und Konsorten führte.«

Teilweise sind die Filme, die in der Reihe gezeigt werden, schon der eigentliche Skandal. »Nacht und Nebel« war der erste Film über die NS-Vernichtungslager und die unterlassene Erinnerung daran. In der Adenauer-Ära wollte man diese Bilder aber nicht sehen.
Der Film wurde 1955 in Auschwitz gedreht und zeigte zum ersten Mal die Dimension des Terrors und die Täter – auch die aus der Großindustrie. Die Bundesregierung sorgte dafür, dass er aus dem Programm der Filmfestspiele in Cannes gestrichen wurde. In Westdeutschland konnte man den Film nicht in Kinos, sondern nur auf Antrag und in geschlossenen Veranstaltungen sehen. Die erste Lebenslüge der BRD 1949 war, so Jürgen Habermas, der wie eine Beschwörung wiederholte Satz Adenauers: »Wir sind Demokraten. Alles, was sich vorher ereignet hatte, war damit wie ausgelöscht. Aber nicht nur die Politiker fühlten sich von der Vergangenheit eingeholt und provoziert. Rolf Hochhuths Theaterstück »Der Stellvertreter« aus dem Jahr 1963, das Papst Pius XII. und die Katholischen Kirche anklagte, weil sie in Kenntnis des Völkermords an den Juden weggesehen und geschwiegen hatten, wurde von den großen Theatern und den Fernsehanstalten der Bundesrepublik boykottiert.
 

Welche Rolle spielen Ihre persönliche Erfahrungen?
An zwei Skandalen war ich selbst beteiligt – am Aufbruch von 1965 bis 1968, der eine Revolte gegen die ­Nazigeneration, das heißt auch gegen die eigenen Väter war. Strukturell und personell gab es eine Kontinuität, die das Ende der Naziherrschaft jahrzehntelang überdauert hatte. Der zweite Skandal war die erzwungene Kapitulation der von mir kuratierten ersten »Wehrmachtsausstellung« 1995 bis 1999. Leider ist Jan Philipp Reemtsma, der Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, damals sowohl vor dem rechten Mob als auch vor dem Revisionismus der bürgerlichen Rechten eingeknickt.
 

Der Historikerstreit kann als eine Antwort auf die von Bundeskanzler Helmut Kohl ausgerufene »geistig-moralische Wende« gesehen werden. Als Deutscher sollte man wieder stolz sein auf seine Nation, ohne ständig mit der Vergangenheit konfrontiert zu werden.
Der Historikerstreit war eine wichtige Zäsur und gleichzeitig auch ein Spiegelbild der gesellschaftspolitischen Veränderungen in den acht­ziger Jahren. Er war eine unmittelbare Reaktion auf einen Artikel des Historikers Ernst Nolte, der am 6. Juni 1986 unter dem Titel »Vergangenheit, die nicht vergehen will« in der FAZ erschienen war. Nolte behauptete, der deutsche »Rassenmord« an den Juden sei bloß die Imitation der »Klassenmorde« am Bürgertum in der Französischen Revolution 1789 und der Russischen Revolution 1917 gewesen, eine »Kopie« also und nicht das »Original«. Jürgen Habermas hat Noltes revi­sionistischen Tricksereien scharf widersprochen und deutlich gemacht, dass Deutschland nur durch die Annahme des in Auschwitz Geschehenen den Anschluss an die universalistischen Traditionen der europäischen Aufklärung – die Menschenrechte – wiedergefunden habe. Historiker wie Hans Mommsen, Christian Meier, Eberhard Jäckel oder Jürgen Kocka schlossen sich der Argumentation von Habermas an. Nolte widersprach auch dem Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der in seiner Rede vom 8. Mai 1985 Au­schwitz als »beispiellos in der Geschichte« und die Kapitulation Nazideutschlands am 8. Mai 1945 als »Tag der Befreiung« für alle Deutschen bezeichnet hatte. Dieser Versuch Noltes, die Last der deutschen Geschichte zu entsorgen, war von Joachim Fest, dem Verfasser einer fragwürdigen Hitler-Biographie, dem Verantwortlichen für einen apologetischen Hitler-Film und seit 1973 Mitherausgeber der FAZ, initiiert und gestützt worden. Sein erklärtes Ziel war es, statt des »Schuldcharakters« den »Verhängnischarakter« der deutschen Geschichte zu betonen. Deutschland war für ihn ein Opfer ungünstiger geographischer wie unglücklicher politischer Verhältnisse. Der Historikerstreit erwies sich allerdings auch als eine verspätete Reak­tion auf die US-amerikanische Fernsehserie »Holocaust«, die 1979 in der BRD ausgestrahlt worden war und tatsächlich einer Mehrheit der Westdeutschen das Schicksal der Juden in der Nazizeit am Beispiel einer jüdischen Familie näherbrachte, mit der man sich identifizieren konnte. Dieses Bespiel zeigt, dass diese Skandale miteinander verknüpft waren, aufeinander antworteten oder sich verstärkten – teils verspätet, teils sofort und immer mit unterschiedlicher Heftigkeit.

»Die Parolen der AfD wie die von der NS-Zeit als ›Vogelschiss‹ angesichts einer angeblichen ›tausendjährigen Geschichte‹ Deutschlands kommen bei einem immer größer werdenden Teil der Deutschen an.«

Rückblickend hat die Debatte dem Ruf Noltes mehr geschadet als genützt, trotzdem muss man mit Blick auf die folgenden Jahrzehnte feststellen, dass es in regelmäßigen Abständen Versuche gab, die deutsche Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ebenso zu relativieren wie den Mord an den europäischen Juden. In der Goldhagen-Debatte von 1996 ist das ebenso zu spüren wie bei der Auseinandersetzung um die »­Erste Wehrmachtsausstellung«.
Die 1995 eröffnete Ausstellung »­Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944« präsentierte das Ende der bisherigen Legende von der »sauberen Wehrmacht«. Die Wanderausstellung, die trotz schärfster Proteste in 34 österreichischen und deutschen Städten zu ­sehen war und fast eine Million Besucher hatte, wurde 1999 wegen ­angeblich gefälschter Fotos von Jan Philipp Reemtsma zurückgezogen. Ein Jahr später, nach Prüfung durch eine internationale Historikerkommission, war die Ausstellung rehabilitiert: Sie bestätigte die »Intensität und Seriosität« der von den Autoren geleisteten Quellenarbeit und teilte mit, dass »weniger als 20« von 1 400 Fotos falsch zugeordnet worden seien. Ohne diese Überprüfung abzuwarten, hatte Reemtsma eine neue, total entschärfte Fassung vorbereitet. Darin kamen die Fotos, die alle von den Landsern selbst geknipst worden waren, nicht mehr vor, und an der Erforschung der Gewaltbereitschaft wie der Mordbeteiligung der Soldaten, von denen zehn Millionen allein an der Ostfront eingesetzt waren, bestand kein Interesse mehr. Der Spiegel bemerkte süffisant, dass jetzt nicht mehr die »Millionen kleiner Soldaten« auf der Anklagebank säßen, »sondern Hitlers Generäle«. Diese »bereinigte« Ausstellung stieß auf größte Zustimmung bei Regierung, Bundeswehr, Union und reaktionären Teilen der SPD. Bundeskanzler Gerhard Schröder schickte seinen Kulturstaatsminister mit einem Grußwort, der Direktor des Militärwissenschaftlichen Forschungsamtes (MGFA) hielt die Eröffnungsrede, und der Münchner CSU-Vorsitzenden Peter Gauweiler, der 1997 mit 300 000 Postwurfsendungen die Münchner vergeblich zum Boykott der Ausstellung aufgerufen hatte, bekannte seine Genugtuung. Die FAZ nannte das Werk zutreffend »ein gutes Stück Konsensgeschichte«.
 

Es gab aber auch zahlreiche Wissenschaftler, die die Wehrmachtsausstellung aktiv bekämpften, teilweise mit Falschaussagen.
Der damalige Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte (IfZ), Horst Möller, hatte uns – die vier Autoren der Ausstellung – als »Goebbels-Schüler« bezeichnet. Das IfZ war schon immer eine Institution des Geschichtsrevisionismus. Man hatte ganz früh die Kooperation mit jüdischen Historikern wie Joseph Wulf, Gerald Reitlinger und H. G. Adler verweigert oder wie im Fall von Raul Hilberg durch negative Gutachten verhindert, dass dieser in Deutschland publizieren konnte. Jetzt galt es, die radikale Aufklärung über die wirkliche Rolle der Wehrmacht zu sabotieren. Daher durfte der polnische Historiker Bogdan Musiat, kurz bevor die englische Version der Ausstellung mit einem eigenen Katalog in prominenten Universitäten der USA gezeigt werden sollte, mit einem Beitrag in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte des IfZ den General­angriff gegen die Ausstellung auslösen: Er behauptete, dass diese »Opfer der Sowjets zu Opfern der Wehrmacht gemacht« habe und dass die von ihm aufgedeckten zehn Fehler »nur die Spitze des Eisbergs« seien, was, wie die Historikerkommission später nachwies, nicht stimmte. Letztlich sorgte diese Hetze auch dafür, dass es zur ersten großen gemeinsamen Massenmobilisierung von 5 000 bürgerlich-konservativen Rechten und militanten Neonazis in der Geschichte der BRD kam. Diese Mischung entsprach dem, was wir heutzutage bei Kundgebungen von AfD oder Pegida regelmäßig erleben.
 

Das revisionistische Geschichtsbild wurde in der Öffentlichkeit zum ersten Mal 1998 in der Walser-Bubis-Debatte bemüht. Nicht nur, dass Martin Walser für die Forderung in seiner Friedenspreisrede, er wolle nicht mehr ständig die »Moralkeule« Auschwitz spüren, viel Zustimmung fand, es waren in der Debatte auch immer häufiger antisemitische Töne zu hören. Der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, hat Walser damals einen »rechts­extremen Intellektuellen« genannt.
Der Walser-Skandal ist aus meiner Sicht die zentrale Schnittstelle in dem Prozess, der zur Bildung gewaltbereiter Nazi-Strukturen und von Pegida sowie zur Gründung der AfD durch Gauland und Konsorten führte. Walser hat sprachlich virtuos ein Kollektiv derjenigen etabliert, die nicht mehr über die Verbrechen der Nazizeit reden wollten und die sich nicht mehr gefallen lassen wollen, sich von den vermeintlichen Alliierten immer noch »umerziehen« und »resozialisieren« zu lassen. Es gebe nur noch ein individuelles Gedenken, das durch offizielle Staatsakte und Jubiläen erschwert werde. Er hat behauptet, dass es in Form der »Auschwitz­keule« und der in Berlin als »Denkmal der Schande« errichteten Gedenkstätte für die ermordeten europäischen Juden eine Meinungsdiktatur gebe, die von Medien, Politikern und Wissenschaftlern ausgeübt werde. Von diesen »Meinungs- und Gewissenswarten« würden bestimmte Themen tabuisiert und andere mit einer derartigen Übermacht in den Vordergrund gerückt, dass man als Kritiker nur noch verstummen könne. Walser hat sich damit zum Sprecher einer vermeintlich »schweigenden Mehrheit« gemacht und das ausgesprochen, was sich angeblich niemand auszusprechen traue – dass die Deutschen heute wieder ein »normales Volk« seien.
 

Es war nicht nur der Wortlaut der Rede, auch die Reaktionen darauf zeugten von einer verän­derten Situation. In der Frankfurter Paulskirche gab es stehende Ovationen nach der Rede. Lediglich das Ehepaar Bubis und Friedrich Schorlemmer blieben sitzen. Auch das mediale Echo war überwiegend positiv. Waren das die Vorboten auf dem Weg zur »selbstbewussten Nation«?
Man war schon mittendrin. Ignatz Bubis warf Walser zu Recht vor, er sei ein Brandstifter. Es gab einen mühsamen Debattenprozess, an dessen Ende sich auch Walsers Laudator, der Mitherausgeber der FAZ, Frank Schirrmacher, von der Rede distanziert hatte. Im Vierergespräch mit Walser, Bubis und Salomon Korn wurden viele Punkte noch einmal kritisch aufgearbeitet, ohne dass der Friedenpreisträger auf Bubis und dessen bewegendes Angebot einer gemeinsam von nichtjüdischen und jüdischen Deutschen getragenen Erinnerungskultur einging. Wenig später hat Jörg Friedrich in dem für revisionistische Schriften bekannten Propyläen-Verlag das Buch »Der Brand« veröffentlicht, das sich schnell mehr als eine Million Mal verkauft hat. Darin wird faktisch der »Bomben-Holocaust« sprachlich reinszeniert. Friedrich nennt die Bomberflotten »Einsatzgruppen«, die brennenden Luftschutzkeller »Krematorien« und die Toten »Ausgerottete«. Er setzt die Bombenopfer von Dresden mit den Toten von Auschwitz gleich und wurde damit zum Stichwortgeber für die alten und neuen Nazis. Ohne Vorläufer wie Nolte oder Walser und ohne Reemtsmas Rückzug der ersten »Wehrmachtsausstellung« und deren Ersetzung durch eine kastrierte »Konsensausstellung« wäre das nicht möglich gewesen.
 

Wie Sarrazin auch …
Mit seinem 2010 erschienenen Buch »Deutschland schafft sich ab« wurde er zum Stichwortegeber der AfD und zum Propheten, der das Ende der deutschen Geschichte und einen neuen »Untergang des Abendlandes« verkündete. Bild und Spiegel haben dann Teile seines Buchs abgedruckt und so dem Skandal Seriosität und größtmögliche Publizität verliehen.
 

Stößt Aufklärung nicht gerade dort an ihre Grenzen, wo die gesellschaftlichen Verhältnisse ein Bewusstsein reproduzieren, das reaktionär und revisionistisch ist?
Es ist eine Sisyphusarbeit, aber gerade dieses Umschlagen in ein neues Verleugnen der alten deutschen Schuld und die Herausbildung aktueller Formen des Revisionismus ist für den Historiker eine unabweisbare und zugleich aufregende Herausforderung. Die Berliner Reihe zu den großen deutschen Geschichtsskandalen wird deshalb im November 2020 mit einer Konferenz enden. Diese reagiert auf den die Triumphe der NPD Ende der sechziger Jahre noch übertreffenden derzeitigen Rechtsruck in der Bundesrepublik, der eine Refaschisierung von Teilen der Bevölkerung bedeutet. Die Parolen der AfD wie die von der NS-Zeit als »Vogelschiss« angesichts einer angeblichen »tausendjährigen Geschichte« Deutschlands oder eines Medien und Politik dominierenden »Schuldkults« kommen bei einem immer größer werdenden Teil der Deutschen an. Angesichts dieser wachsenden Sympathien für radikal-populistische »Lösungen« sowie einer parlamentarisch wie außerparlamentarisch agierenden »völkischen« oder »neonazistischen Bewegung« ist es nötig, neue Konzepte der Erinnerungs- und Geschichtspolitik zu entwickeln. Man muss die Frage stellen, was der Begriff »Antifaschismus« heute bedeutet und ob er dazu taugt, als »Minimalkonsens der Demokraten« zu firmieren.

Kampf um die deutsche Schuld: Der Historikerstreit 1985–88. Urania Berlin, 16. Februar, 11 Uhr. Weitere Termine unter www.urania.de/urania-reihe/der-skandal-als-vorlauter-bote-die-grossen-deutschen-geschichtsdebatten