Der Posthumanismus der Musikerin Grimes ist nicht geheuer

Auslöschung als Ereignis

Grimes huldigt auf ihrem neuen Album dem Klimawandel und freut sich auf das angeblich bevorstehende Aussterben der Menschheit. Ihr neues Album ist nur anhörbar, wenn man die Künstlerin vom Werk trennt.

Manchen Musikern sollte man nicht zuhören, wenn sie öffentlich sprechen. Es genügt, ihrer Musik zu lauschen, vielleicht noch, sie auf der Bühne zu sehen. Kaum sagen sie einen politischen Satz, ist das Werk ruiniert. Dann spricht aus einer vormals bedeutungsschwangeren Zeile, in die der Hörer viel Herz gelegt hat, nur Idiotie oder gar der Wahn. Es ist, wie wenn man erfährt, dass in einem bekannten Knabbergebäck Schweineborsten als Aromastoffe verarbeitet werden. Es sieht gleich aus, schmeckt so gut wie immer, aber das Wissen wird man nicht mehr los. Bei jedem Biss grunzt der Paarhufer.

Auf »Miss Anthropocene« soll jeder Track eine »andere Verkörperung der Menschheitsauslöschung, gezeichnet durch eine Popstar-Dämonologie«, darstellen, in der Hoffnung, dass der Untergang dadurch »leichter anzuschauen« wird, ließ Grimes auf Instagram wissen.

In diesem Sinne kann dem Leser dieser Zeilen nur geraten sein, nicht mehr weiterzulesen, wenn er Claire Boucher alias Grimes und ihre sehr gute Popmusik bislang mochte. Denn es ist kein Geheimnis, dass Boucher an das »Konzept Mensch« nicht so recht glauben mag und dass sie seit jeher versucht, ihr eigenes Menschsein mithilfe ihrer Kunstfigur zu überschreiten. Dass die Menschheit vor die Hunde geht, fände Grimes nicht verkehrt. So sagte sie dem briti­schen Popmagazin NME: »So wie ich die Sache sehe, ist der Klimawandel scheiße und niemand will darüber etwas lesen, weil immer, wenn man etwas davon hört, ist es eine Beschuldigung. Ich will, dass der Klimawandel Spaß macht.«

Folgerichtig sei ihr neues Album »Miss Anthropocene« ein Album über die schönen Seiten des Klimawandels, nämlich die freudige Erwartung des Untergangs der gesamten Menschheit. Es sollte eigentlich nichts zur Sache tun, in diesem Fall lässt sich aber nicht ignorieren, dass Claire Boucher seit nunmehr knapp zwei Jahren mit dem Kapitalpropheten Elon Musk liiert ist. Aber Moment: Ist Musk mit seinen Stromschlitten nicht der beste Beweis dafür, dass er an einem Fortbestehen der Menschheit zumindest ökonomisch interessiert ist? Nur teilweise, schließlich bastelt Musk nicht nur schicke Teslas, sondern will die Menschen erklär­termaßen auch auf dem Mars ansiedeln, da auf der Erde ein »Auslöschungsereignis« (»extinction event«) drohe. Zumindest die, die es sich leisten können, können sich ins Weltall flüchten. Der Rest kann unten auf die Flut warten – und dazu Grimes hören.

Die musikalische Begleitung wäre angenehm, denn »Miss Anthro­pocene« bietet einen erquicklichen Sound­track zum Kollaps. Einmal mehr stellt die notorische Selbstmacherin Grimes unter Beweis, was für ein Popgenie sie ist. Der Eröffnungstitel »So Heavy I Fell Through the Earth« ist ein süßlich-düsteres Epos, in dem kaum eine Sekunde der anderen gleicht, das aber schnell so sehr ins Hirn einsickert, als würde man es seit Jahren kennen. »Violence« hingegen ist eine konsequente Synthpop-Tanznummer, die gleichzeitig veraltet und futuristisch klingt. Aufgetischt wird Todesengel­ästhetik, die jüngst einer gewissen Billie Eilish zu sehr großem Erfolg verholfen hat, bei Grimes aber vieldeutiger, psychotischer, ungeschliffener daherkommt, nicht zuletzt dank ihrer bemerkenswerten Videokunst.

Die musikalische Entwicklungs­geschichte der ehemaligen Neurowissenschaftsstudentin liest sich wie der anhaltende Versuch, das Menschliche aus dem Werk so gut es geht zu entfernen. Waren ihre anfänglichen eher minimalistischen Hits, die sogar die Popsnobs von Pitchfork beeindruckten, noch recht organisch, ging die Musikerin später mehr und mehr in der Künstlichkeit auf. Auf »Miss Anthropocene« soll jeder Track eine »andere Verkörperung der Menschheitsauslöschung, gezeichnet durch eine Popstar-Dämonologie«, darstellen, in der Hoffnung, dass der Untergang dadurch »leichter anzuschauen« wird, als wenn er lediglich »abstraktes Verderben« bliebe, ließ die Sängerin auf Instagram wissen. Bei Grimes erwächst aus dem Ende des Menschen nicht der nietzscheanische Übermensch, sondern der Übercyborg.

Den »neuen Göttern« will Grimes huldigen (»Only brand new gods can save me«) und begibt sich dafür auf eine riesige schiefe Ebene, auf der sich menschlicher Fortschritt nur in eine Richtung bewegen kann. Ganz gemäß des angepeilten Ziels ist wenig traurig auf »Miss Anthropocene«. Warum auch? Die Apokalypse soll ja Spaß machen und gefeiert werden.

Nun ließe sich das alles als ein originelles künstlerisches Konzept verstehen, das mit der realen Person wenig zu tun hat, doch dem ist nicht so. Grimes betonte in Interviews mehrfach, dass ihr jeder Fortschritts­pessimismus fremd sei und ihr eine Roboterherrschaft angenehmer vorkomme als eine Zukunft, in der Menschen die von ihnen selbst ins Rollen gebrachten Prozesse zu kontrollieren versuchen. Komponierende Algorithmen seien das erstrebenswerte Nebenprodukt dieser Entwicklung. »Sobald die echte allgemeine künstliche Intelligenz da ist, wird sie so viel bessere Kunst machen können als wir. Sobald die KI Wissenschaft und Künste meistert, was in den nächsten zehn, vielleicht eher 20 oder 30 Jahren passieren wird«, twitterte sie.

Der Klimawandel kommt da gerade recht, beschleunigt er doch das Aussterben der Unnützen und bringt die anderen dazu, sich mit Technik zu retten und gleichzeitig an ihrer eigenen Abschaffung zu schrauben. »Hiermit erkläre ich die Erderwärmung für gut«, lautet der Anfang ­eines Gedichts, das Grimes zur Ankündigung ihres Albums veröffentlichte. Eine Geisteshaltung, die sich nur zu eigen machen lässt, wenn einem das Leben recht not- und sorgenfrei vorkommt, so dass der Kollaps wie eine erfrischende Abwechslung zum nervtötend langweiligen, privilegierten Leben und zur sich endlos wiederholenden Postmoderne wirkt. Es sollte wirklich keine Rolle spielen, aber ihren Freund hört man auch hier aus den Zeilen heraus sprechen. Wohl auch deswegen nannte die US-amerikanische Musikerin Zola Jesus Grimes die »Stimme des faschistischen Silicon-Valley-Privilegs«. Abgesehen von der ermüdenden Faschismusverharmlosung wohl keine ganz unzutreffende Einordnung.

Einerseits schmerzt das besonders, da Grimes einst als durchaus progressive Künstlerin gelten konnte und nun ihren Partner noch ver­teidigt, wenn er Gewerkschaften angreift. Andererseits ist es wenig überraschend, da die Sängerin seit jeher erklärte Antiimperialistin ist. Noch mehr Weisheiten von ihr: »Die Welt ist scheiße. Akzeptiere die Welt. ­Anstatt zu wünschen, dass sie anders wäre, finde heraus, was du tun musst und tue es.«

Und so kommt es, dass ausgerechnet der einfallsloseste Song auf »Miss Anthropocene« zum leisen Hoffnungsschimmer wird: »Delete Forever«, das mit einem schamlos geklauten Riff aus »Wonderwall« anfängt und sich zu einer derartig ­ekligen Kitschpop-Nummer entfaltet, dass sie auch von Taylor Swift in ihrer frühen Country-Phase hätte stammen können. Unter anderen Umständen wäre so ein Song unverzeihlich gewesen, für Grimes könnte es aber das Signal sein, dass sie durchaus noch in der Lage ist, den menschlichen Makel zu zelebrieren, anstatt ihn mitsamt der Wurzel für immer entfernen zu wollen.

»Miss Anthropocene« ist ein Konzeptalbum, das am besten klingt, wenn der Hörer das ausgesprochen verblödete Konzept ganz schnell vergisst, über keine Textzeile ein zweites Mal nachdenkt, und nur dem musikalischen Talent der Künstlerin Aufmerksamkeit schenkt. Ungeachtet dessen, dass der zuweilen butterweiche Sound und die obskuren po­litischen Vorstellungen bestens geeignet sind, um demnächst Einzug in jede Erstsemester-WG mit Wandtattoo und Che-Guevara-Flagge zu halten, ist ihr ein großer Wurf gelungen. Interviews mit Grimes sollten dennoch bis auf weiteres nicht gelesen werden, ansonsten drohen Schweineborsten.
 
Grimes: Miss Anthropocene (4AD)