Eskalierende Kämpfe und humanitäre Katastrophe in der syrischen Provinz Idlib

Autokraten im Krieg

In der syrischen Provinz Idlib eskalieren die Kämpfe zwischen der Türkei und sunnitisch-islamistischen Milizen auf der einen und dem von Russland unterstützten Assad-Regime und schiitisch-islamistischen Milizen auf der anderen Seite. Eine humanitäre Katastrophe ist eingetreten.

In der umkämpften syrischen Rebellenprovinz Idlib streiten zwei Autokraten um die Zukunft Syriens und mehr noch um ihr politisches Prestige: der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und der russische Präsident Wladimir Putin. Keiner von beiden hatte anfangs einen zwingenden Grund, sich in Syrien einzumischen. Beide verlautbarten fälschlich, sie wollten in Syrien den »Islamischen Staat« bekämpfen. Daraus wurde rasch der Kampf gegen irgendwelche »Terroristen« – im Falle der Türkei waren damit die Einheiten der mit der PKK verbundenen syrisch-kurdischen PYD gemeint, im Falle Russlands gegen das Regime des syrischen Diktators Bashar al-Assad kämpfende, meist islamistische oder jihadistische Milizen sunnitischer Provenienz, die oft mit den türkischen Truppen kooperieren.

Bislang vermeiden Putin und Erdoğan einen völligen Bruch. Aber ein Kompromiss über Idlib ist kaum noch denkbar.

Die syrischen Truppen werden hingegen von einem Netzwerk aus schiitischen Milizen unterstützt, das Qasem Soleimani aufgebaut hatte, der Anführer der al-Quds-Brigaden der iranischen Revolutionswächter, den im Januar ein US-Raketenangriff in Bagdad tötete. Einige Zehntausend Milizionäre sollen es sein, die aus dem Irak, dem Libanon, aber auch aus Afghanistan und Pakistan stammen und von iranischen Offizieren angeführt werden.

Trotz unterschiedlicher und oft gegensätzlicher Interessen haben Putin und Erdoğan in Syrien lange mehr zusammen- als gegeneinander gearbeitet. Bislang vermeiden beide einen völligen Bruch. Aber ein Kompromiss über Idlib ist kaum noch denkbar.

Ließe Putin Assad die gemeinsame Offensive in Idlib einstellen, käme wohl kein so günstiger Zeitpunkt, sie wieder aufzunehmen. Syrien dürfte de facto geteilt bleiben. Putin würde dann nicht als der glänzende Sieger dastehen, sondern als derjenige, der es Erdoğan ermöglicht hat, einen Teil Syriens in ein türkisches Protektorat zu verwandeln.

Assad und Putin mögen es auch deshalb mit der Offensive in Idlib eilig haben, weil Syrien ökonomisch die Luft ausgeht. US-Truppen bewachen noch immer die Ölfelder im Osten, der Iran kann wegen der Sanktionen, die die USA unter Präsident Donald Trump verhängt haben, kaum noch aushelfen, die Krise im Libanon schadet der syrischen Wirtschaft zusätzlich. Ein Sieg in Idlib würde diese Probleme zwar nicht lösen, das Assad-Regime aber weiter stabilisieren.

Sollten hingegen Erdoğans Truppen aus Idlib abziehen, müssten zumindest eine weitere Million syrischer Flüchtlinge untergebracht werden, die die Türkei nicht aufzunehmen bereit ist. Wahrscheinlich würde Erdoğan versuchen, möglichst viele der Flüchtlinge in die von der Türkei eroberten syrischen Gebiete al-Bab, Afrin und Tell Abyad/Ras al-Ain umzusiedeln. Doch wahrscheinlich wären dann auch diese Gebiete nicht mehr zu halten. Es wäre eine Niederlage direkt vor der Haustür, und das nach mehreren Feldzügen. Erdoğans politische Zukunft wäre gefährdet.

Den bewaffneten Konflikt komplettiert die humanitäre Katastrophe für die Menschen, die in Idlib leben oder aus anderen Teilen Syriens dorthin geflohen sind. Nach Angaben der Uno sind 900 000 Menschen, zu 80 Pro­zent Frauen und Kinder, seit Anfang Dezember an die türkische Grenze ­geflohen. Es herrscht Winterwetter, teilweise mit Schnee. Mehrere Menschen sollen erfroren sein. Denen, die sich noch nicht auf die Flucht gemacht ­haben, geht es nicht viel besser. Täglich greifen die russische und die syrische Luftwaffe an. Wohngebiete, Krankenhäuser und Schulen scheinen bevorzugte Ziele zu sein. Dazu kommt die Angst einem Sieg Assads. Viele müssten dann für sich oder nahe Angehörige Gefängnis, Folter und Hinrichtung fürchten – sei es, weil sie irgendwann einmal die Opposition unterstützt haben, sei es, weil sie nicht zu Assads Armee gegangen sind, sei es, weil jemand sie denunziert, der mittlerweile in ihrem Haus wohnt.

Die humanitäre Katastrophe scheint Erdoğans Festhalten an Idlib zu rechtfertigen. Doch erst im September hat die türkische Armee 160 000 Menschen aus dem türkisch-syrischen Grenzgebiet vertrieben. Erdoğan hätte die ethnische Vertreibung und Umsiedlung in der Grenzregion gerne noch weiter getrieben, hätten ihm die USA und Russland nicht signalisiert einzuhalten. Anfang Februar hat die Türkei die Errichtung von Lagern in Afrin verboten. Dort wären Flüchtlinge aus Idlib vorerst sicher. Dann ließe sich mit ihrer Präsenz aber auch nicht mehr für den Erhalt des Rebellengebiets argumentieren. Flüchtlinge, die dennoch nach Afrin ausweichen, bekommen anscheinend keine oder weniger Unterstützung. Ein Bericht über Flüchtlinge, die ohne Zelte in der Kälte im Freien schlafen müssen, kam jüngst aus Afrin.

Die Türkei wirft Russland vor, mit der Offensive in Idlib die Waffenstillstandsabkommen von Astana und Sotschi zu brechen. Russland wirft der Türkei vor, die al-Qaida ­nahestehende Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) nicht zurückgedrängt zu haben. Stattdessen konnte die HTS unter türkischem Schutz ihr Einflussgebiet von 40 Prozent des Territoriums der Region auf nahezu ganz Idlib ausdehnen. Die türkische Regierung sagt, man sei nun bereit, den Einfluss der HTS einzudämmen, doch in Moskau glaubt man nicht daran oder will nicht daran glauben.

Erdoğan hat in der ersten Februarhälfte frische Truppen nach Idlib geschickt, nach Medienberichten ungefähr 7 000 Soldaten mit 2 000 Fahrzeugen, darunter auch viele Kampfpanzer und Haubitzen. Erdoğan beruft sich bei der Entsendung von Truppen nach Syrien mittlerweile auf das Memorandum von Adana von 1998 zwischen der Türkei und Syrien. In dem Protokoll hatte die Türkei Syrien zur Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der PKK verpflichtet. In einem geheimen Zusatzabkommen soll festgelegt worden sein, dass die Türkei Terroristen bis zu fünf Kilometer auf syrisches ­Territorium verfolgen dürfe. Das Assad-Regime bestreitet die Existenz dieses Zusatzabkommens; jedenfalls bedeutet es nicht, dass die türkische Armee nach Belieben in Syrien vorrücken darf.

Der türkische Aufmarsch in Syrien wirft aber nicht nur Probleme des internationalen Rechts auf. Bei Artilleriegefechten und Luftangriffen starben in den vergangenen zwei Wochen 14 türkische Militärangehörige. Die Höhe der Verluste auf syrischer Seite ist nicht bekannt. Erdoğan räumte in einem Nebensatz ein, dass auch Russland an Angriffen auf türkische Soldaten beteiligt war. Russland stellte Videoaufnahmen ins Netz, die einen türkischen Militärkonvoi im Fadenkreuz einer Drohne zeigen.

Die türkische Armee versuchte Assads Truppen aufzuhalten, indem sie Straßen absperrte. Außerdem lieferte sie islamistischen Milizen offenbar Waffen, mit denen diese zwei Hubschrauber abschießen konnten. Aber die syrische Armee führt ihre Offensive weiter. Stützpunkte, die die Türkei in Idlib neu errichtet, befinden sich immer näher an der türkischen Grenze. Am 4. Februar gab Erdoğan Assad bis zum 1. März Zeit, sich wieder auf die alte Demarkationslinie zurückzuziehen, sonst werde die Türkei dies erzwingen. Assads Armee rückt aber weiter vor.

Erdoğans ultranationalistischer Koalitionspartner, der MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli, verkündete kürzlich: »Die türkische Nation sollte in Damaskus eindringen«, und fügte hinzu: »Lasst uns Syrien niederbrennen!« Türkische Generäle dürften bei diesen Vorschlägen den Kopf geschüttelt haben. Zehn oder elf türkische Stützpunkte in Idlib sind derzeit von der syrischen Armee umzingelt. Die türkische Luftwaffe hat keinen Zugang zum Luftraum über Idlib. Sollten türkische Jets trotzdem eindringen, bekämen sie es wohl mit der russischen Luftabwehr zu tun. Diese anzugreifen, wäre eine weitere Eskalation im ohnehin angespannten Verhältnis zwischen der Türkei und Russland. Putin könnte die Gaslieferungen an die Türkei unterbrechen. Der bilaterale Handel würde wohl eingestellt. Die Türkei könnte im Gegenzug den türkischen Luftraum für russischen Nachschub sperren und russische Kriegs- und Handelsschiffe an der Fahrt durch den Bosporus hindern.

Verbale Unterstützung für die Türkei kommt von der Nato und mehr noch von den USA. Der US-Sonderbeauftragte für Syrien, James Jeffrey, verkündete vorige Woche, türkisch radebrechend, sogar, die in Syrien gefallenen Soldaten seien »unsere Märtyrer«. So etwas sei nicht wichtig, wenn es nicht von Präsident Trump persönlich komme, meinte Erdoğan darauf. Sein Verhältnis zu Putin sei viel besser, als es den Anschein habe. Er habe vor ein paar Tagen ein wunderbares Gespräch mit Putin geführt, tags darauf sei dann die Türkei lediglich von untergeordneten Stellen in Russland kritisiert worden. Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu versichert, die Meinungsverschiedenheiten über Idlib würden das türkisch-russische Verhältnis nicht beeinträchtigen.

Doch faktisch treibt Putin Erdoğan gerade vor sich her. Dieser sieht wohl keine Alternative dazu, Putin nachzugeben. Der US-amerikanische Präsident hat sich zwar mittlerweile geäußert, doch dass er sich wegen Idlib mit Putin anlegt oder gar Truppen dorthin schickt, ist sehr unwahrscheinlich. Von den Europäern ist das noch weniger zu erwarten. Diese verhalten sich zu Idlib ohnehin auffallend ruhig, obwohl einige Hunderttausend Flüchtlinge von dort auch die europäische Politik durcheinanderwirbeln könnten. So setzt sich der Konflikt der beiden Autokraten um Syrien fort, und Putin ist derjenige, der am längeren Hebel sitzt.