Die Chaostage bei der Union dauern an

Gespalten und kopflos

Die CDU hätte für 2020 krisenärmere Zeiten erwarten können. Doch seit der Wahlfarce von Thüringen dauern die christdemokratischen Chaostage an, die Partei ist in einem fragilen Zustand.

Die oft als Kanzlerwahlverein titulierte Union, die für sich traditionell die Rolle reklamiert, die Republik zu stabilisieren, sorgt beinahe stündlich dafür, dass »Eilmeldung« vermutlich das Wort des Jahres wird. Es spricht Bände über den Zustand der CDU, dass mit dem konservativen Wirtschaftspolitiker Friedrich Merz ein Mann der Vergangenheit als größter Hoffnungsträger gilt. Die Sehnsucht nach einer starken Parteiführung kann aber nicht über die grundsätz­lichen Schwierigkeiten der Union in einem immer stärker polarisierten ­Parteiensystem hinwegtäuschen. Die Reaktionen auf die Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) zum thüringischen Ministerpräsidenten von Gnaden der AfD haben auch die Gegensätze in der CDU aufgezeigt. Während eine lautstarke Minderheit in der Partei für einen Kurs nach rechts plädiert, sind prominente Mitglieder wie die ehemalige thüringische Ministerpräsidentin Chris­tine Lieberknecht sogar zur Kooperation mit der Linkspartei bereit. Eine so tiefgreifende Uneinigkeit war in der deutschen Christdemokratie bislang undenkbar.

Angela Merkel sagte während ihres Besuchs in Südafrika, »Kommunisten unter freiheitlichen Bedingungen« seien »auch nicht mehr die Kommunisten, die sie einmal waren«.

Symptomatisch für den Zustand der Union ist die Nervosität, die die Nähe der Werteunion zur AfD ausgelöst hat. Der rechtskonservative Verein umfasst nach eigenen Angaben rund 4 500 Mitglieder. Nicht alle verfügen über ein Parteibuch der CDU. Insgesammt verzeichnet die CDU rund 400 000 Mitglieder, die Werteunion agiert also als Netzwerk von etwas mehr als einem Prozent der konservativen Mitglieder. Glänzend aber versteht die kleine ­radikale Minderheit der Werteunion das Spiel mit den Medien und provoziert heftige Reaktionen aus der Parteispitze. Gar als »Krebsgeschwür« bezeichnete der langjährige Europapolitiker Elmar Brok den Zusammenschluss jener, die den »konservativen Markenkern« der Union erhalten wollen. Tilman Kuban, der Vorsitzende der Jungen Union (JU), weigerte sich sogar, dem Deutschlandfunk ein Interview zu geben, da dieser zuvor ein Gespräch mit Alexander Mitsch, dem Vorsitzenden der Werteunion, gesendet hatte. Zwar distanzierte sich die Werteunion jüngst in ihrer »Frankfurter Erklärung« von der AfD ebenso wie von der Linkspartei und deklarierte sich stattdessen als »wertekonservatives und wirtschaftsliberales Korrektiv zum Linkskurs der Kanzlerin«. Dennoch gilt der Verein als parteiinterner Verdachtsfall. Die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA), die sich selbst als den »sozialpolitischen Flügel der CDU« bezeichnet, veröffentlichte sogar eine Erklärung mit dem Titel »Mitgliedschaft in Werteunion und CDU ist unvereinbar«.

Gegenwärtig stößt der rechte Flügel in der CDU auf heftigen Widerspruch. Wie CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak, der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Daniel Günther und dessen saarländischer Amtskollege Tobias Hans grenzte sich die Mehrheit des Führungspersonals der Partei von der Werteunion und etwaigen Kooperationen mit der AfD scharf ab. Friedrich Merz nannte die völkischen Nationalisten auf einer Veranstaltung sogar »Gesindel«, sah sich danach aber genötigt zu betonen, dass er damit weder Politiker der AfD noch gar deren Wähler ­gemeint habe. Deutlich wurde so, dass Merz öffentlich zwar gegen ein Phantom, keinesfalls aber gegen benennbare Personen kämpfen will.

Wer nach dem Coup von Thüringen einen »Rechtsruck« in der Union zu ­erkennen glaubt, muss bemerkenswerte Gegentendenzen zur Kenntnis nehmen. Mit ihrem Aufruf, eine Koalition mit der Linkspartei unter Bodo Ramelow zu bilden, setzte sich Christine Lieberknecht über den Parteitagsbeschluss hinweg, der die Zusammenarbeit mit der AfD und der Linkspartei verbietet. Nicht nur sie bemerkt, dass das altbekannte Hufeisenmodell des Extremismus, das in dem präsidialen Sozial­demokraten Ramelow immer noch ­einen Extremistenführer sehen will, der selbsterklärten Partei der Mitte kein Glück gebracht hat. Lieberknechts Vorstoß bedeutet für die CDU nicht weniger als einen Umbruch, gehörte doch von Anfang an ein geifernder Antikommunismus zu deren politischem Selbstverständnis. Stets befremdete dabei die moralische Selbstherrlichkeit einer Partei, die in ihrer Mitte wie selbstverständlich zahllosen ehemaligen nationalsozialistischen Funktionsträgern Platz bot. Der von 1966 bis 1969 regierende Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger war beispielsweise seit 1933 Mitglied der NSDAP und arbeitete ­unter Ribbentrop an prominenter Stelle im Auswärtigen Amt (Jungle World 9/2020).

Offenkundig gehört der Begriff Dialektik nicht ins Wörterbuch der rechten Strategen, sonst hätten sie zumindest ahnen können, welche Gegenkräfte die Hütchenspieler von Erfurt auch in der CDU aktivieren würden.

Zwar unbeholfen, aber dennoch gnadenlos ehrlich wirkte hingegen Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier, als er in der Talkshow Anne Will bemerkte, dass »Teile seiner Partei« Hitler gewählt hätten. Zwar war die Aussage sehr konfus, da die CDU erst 1945 beziehungsweise als westdeutscher Bundesverband im Jahre 1950 gegründet wurde. Doch als faktische Nachfolgeorganisa­tion auch der Zentrumspartei steht die CDU in der Tradition jener christlichen Konservativen, die für das Ermächtigungsgesetz gestimmt haben. Dem bis heute gültigen »freiheitlichen« Gründungsmythos der West-CDU schadete dies nicht.

Für die CDU stand der Feind links. Konrad Adenauer hatte in der Gründungsphase exemplarisch ­gezeigt, wie obszön der christdemokratische Antikommunismus sein konnte. Auf dem ersten Bundesparteitag der CDU in Goslar hoffte er im Jahre 1950, »die Bewohner der Ostzonen-Republik könnten einmal offen schildern, wie es bei ihnen aussieht«. Die Rede des ersten deutschen Bundeskanzlers gipfelte in der Mutmaßung, »unsere Leute« würden hören, »dass der Druck, den der Nationalsozialismus durch Gestapo, durch Konzentrationslager, durch Verurteilungen ausgeübt hat, mäßig war gegenüber dem, was jetzt in der Ostzone geschieht«.

Die DDR galt als Reich des Bösen, die Linkspartei gilt als deren Erbe. Die ­Geschichte der Ost-CDU als Blockpartei interessiert dagegen kaum noch. Aber führenden Politikern der Union scheint diese Haltung inzwischen anachronistisch. Bezeichnenderweise überraschte Angela Merkel während ihres Besuchs in Südafrika, dessen Regierung auch Kommunisten angehören, die Öffentlichkeit mit der Aussage, »Kommunisten unter freiheitlichen Bedingungen« seien »auch nicht mehr die Kommunisten, die sie einmal waren«. Merkel formulierte diesen Satz einen Tag nach der Erfurter Wahlfarce. Er steht beispielhaft für eine Tendenzwende nicht nur in Teilen der Union. Auch dem Kommentator der Welt, einem einstigen Kampfblatt westdeutscher kalter Krieger, galt die gegen Ramelow gerichtete Taktik von FDP und CDU als ­Resultat eines »abgestandenen, aus der Zeit gefallenen Antikommunismus«.

Offenkundig gehört der Begriff Dialektik nicht ins Wörterbuch der rechten Strategen, sonst hätten sie zumindest ahnen können, welche Gegenkräfte die Hütchenspieler von Erfurt auch in der CDU aktivieren würden. Aber insbesondere angesichts der innerparteilichen Kräfteverhältnisse im ­Osten ist Lieberknechts Vorstoß riskant. In der thüringischen CDU-Fraktion herrscht längst nicht nur Schuldbewusstsein über die unfreiwillig dargebotene Kostprobe von parlamentarischem Kretinismus. Im Osten, wo die Rede von der »DDR 2.0« nach dem gegen den Thüringer Wahlausgang gerichteten Machtwort der Kanzlerin neue Nahrung erhalten hat, waren die nationalkonservativen Tendenzen in der Partei schon vor Gründung der Werteunion stark gewesen.

Wer aber auf den konservativen Flügel hofft und meint, Friedrich Merz könne der AfD mit einer stärker rechts orientierten Politik das Wasser abgraben, könnte schnell enttäuscht werden. Nicht nur für Linke ist der Wirtschafts­liberale Merz ein ideales Feindbild. Auch der thüringische AfD-Landesvorsitzende Björn Höcke schmähte Merz, den Aufsichtsratsvorsitzender des deutschen Ablegers des US-amerikanischen Vermögensverwalters Blackrock, in seiner Rede anlässlich der 200. Pegida-Kundgebung Mitte Februar als Repräsentanten einer »One-World-Ideologie« und Teil einer »transatlantischen Polit­elite«. Merz, ein Verteidiger der freien Marktwirtschaft und der Westbindung, würde als Kanzlerkandidat noch häufiger als vaterlandsloser Geselle geschmäht werden.

Die Union bewegt sich kopflos zwischen den entgegengesetzten Lagern der Grünen und der AfD. Letztere ist eine Gründung alter West-CDU-Granden, die nicht mehr zurückzuholen sind. Im Osten ist die Linkspartei nach wie vor eine wichtige politische Kraft, die in einem von der AfD dauerhaft unter­grabenen Parteiensystem nicht draußengehalten werden kann. Die CDU wird künftig darüber streiten, ob aus der urkonservativen Anerkennung der verfahrenen Lage im (ost)deutschen Parteiensystem nicht ein historischer Kompromiss mit der Linkspartei folgen muss. Nach den für die CDU desaströsen Bürgerschaftswahlen in Hamburg stehen im September in Nordrhein-Westfalen noch Kommunalwahlen an. Nicht nur deshalb dürften der CDU weiter unruhige Zeiten der Klärung bevorstehen.