Mit der Netflix-Show von John Mulaney auf den Spuren des Kinderfernsehens

Gibt es Blumen auch nachts?

Die Netflix-Show »John Mulaney and the Sack Lunch Bunch« nähert sich der Kindheit, ohne sie zu verklären.

Die Kindheit hat es nicht immer gegeben. Zwar beruht jede Gesellschaft auf einer variablen Dualität von »Großen« und »Kleinen« – deren Minimaldifferenz darin besteht, dass die Großen jene sind, die Kleine hervorbringen können –, aber die moderne Kindheit, in deren Zentrum das Kind als unschuldiges, zu schützendes und zu erziehendes Wesen steht, ist ein Produkt der im Laufe des 17. Jahrhunderts vollzogenen und in der bürgerlichen Gesellschaft kon­solidierten Trennung der Sphären. Seitdem ist die in der Familie aufgehobene wie eingesperrte Kindheit Projektionsfläche erwachsener Wünsche und Interessen, auch dort, wo sie »befreit« werden sollte. Wo diese Projektionen nicht direkt von den Eltern und anderen Erziehungsbeauftragten auf das Kind übergehen konnten, war es zunächst die Literatur und im 20. Jahrhundert vor allem das Fernsehen, an dem sich ablesen ließ, wie sich Erwachsene die Kindheit vorstellten und was sie von den jungen zukünftigen Arbeitskraftbehältern erwarteten.

An keiner Stelle gibt die Sendung vor, eine »authentische« Kindheitserfahrung zu reinszenieren. Vielmehr betont Mulaney gleich zu Beginn, dass der treibende Impuls seine Erinnerung sei, die Erinnerung an die eigene Kindheit und das damalige Kinderfernsehen.

Für Kinder wurde der Fernseher – proportional zu seiner kulturkritischen Dämonisierung – zu einem libidinös besetzten Wunschobjekt, zum Fenster in eine andere Welt. Die Fernsehformate für Kinder konnten freilich so ideologisch ausfallen wie die in der DDR gezeigte Sportstahlbad-Sendung »Mach mit, mach’s nach, mach’s besser«, die die Treue zum (hier natürlich sozialistischen) Leistungsprinzip bereits im Titel trug, so angenehm kauzig-anarchisch wie die »Sesamstraße« oder so märchenhaft wie »Unser Sandmännchen«. Frei von pädagogischen Momenten waren diese Programme nie; im besten Falle gingen sie aber im Didaktischen nicht auf, sondern stachelten mit Figuren wie dem Krümelmonster, Pittiplatsch oder dem Wasserkobold Plumps eine Art von Phantasie an, die keineswegs auf Kinder beschränkt sein musste.

Dass das Fernsehen, dessen Programm einst den Tagesablauf von Menschen strukturierte, sich in einem fundamentalen Wandel befindet, ist weithin bekannt. Nachteile allein bringt diese Veränderung nicht. Musste sich früher ein Fernsehformat Woche für Woche an den Einschaltquoten bewähren – zumal in den USA, wo die öffentliche Förderung des Fernsehprogramms traditionell deutlich geringer ausfällt als anderswo –, hat der Aufstieg von Streaming-Plattformen wie Netflix zur zeitweiligen Wiederinstandsetzung einer gewissen Teilautonomie kulturindustrieller Produktionen geführt. Um die Aufholjadg auf die traditionellen Filmstudios und Fernsehkanälen nicht abreißen zu lassen, ist es gerade bei Netflix, Amazon und Apple TV zumindest im Moment noch möglich, hochwertige Produktion mit künstlerischer Freiheit zu verbinden.

Ein nicht nur unterhaltsames und witziges, sondern ausnehmend scharfsinniges Produkt dieser Entwicklung ist das Kinder-Musical-Special »John Mulaney and the Sack Lunch Bunch«, das zu Weihnachten 2019 von Netflix veröffentlicht wurde. Geschrieben von dem Stand-up-Comedian John Mulaney und der Drehbuchautorin Marika Sawyer verhandelt die gut einstündige Varieté-Show vor allem ein Thema, nämlich die Angst. Dadurch gelingt es dem Format, etwas in Erinnerung zu rufen, das im Zuge der zeitgenössischen Infantilisierung der Erwachsenen und der damit verbundenen »Adultisierung« des Kindes verdrängt wird, nämlich dass sich Kind und Erwachsener, wo noch nicht vollständig deformiert, ähnlich sind, ohne in eins zu fallen.

Auf den ersten Blick handelt es sich bei »John Mulaney and the Sack Lunch Bunch« um einen nostalgischen Tribut an die Kindersendungen der siebziger und achtziger Jahre  wie Marlo Thomas’ »Free to Be… You and Me«. Dieses mit Gastauftritten von Stars jener Zeit gespickte Programm hat so sympathisch unaufgeregte, aufklärerische Miniaturen wie »William Wants a Doll« (William will eine Puppe) hervorgebracht. So bietet »John Mulaney« neun Lieder sowie einige Sketche und dazwischen Graphiken und Einspieler in mattierten Farben, die an das im Vergleich zur heutigen aufdringlichen HD-Präzision dumpf erscheinende Farbfernsehen der Vergangenheit erinnern.

Durchweg werden die Kinder als Individuen und Gleiche angesprochen und darum weder verhätschelt noch infantilisiert

Verbunden werden die Segmente durch eine knappe Rahmenstruktur: John Mulaney sitzt mit dem »Sack Lunch Bunch« – das »sack lunch« ist ein Lunchpaket – und einer Gruppe von 15 Kinder zwischen acht und 13 Jahren in einer rudimentären Gartenanlage auf einer Bühne und unterhält sich mit ihnen. Diese Einspieler sind mal im besten Sinne albern, mal durchaus tiefgründig: Einmal sollen die Namen von New Yorker Bürgermeistern in die richtige Reihenfolge gebracht werden, ein anderes Mal spielt Mulaney in einer an Ingmar Bergmans »Das siebente Siegel« erinnernden Szene Schach mit einem der Kinder. Dass Mulaney gleich zu Beginn fragen lässt, ob der Ton der Show ironisch sei, weist auf intime Kenntnis sowohl der Seh- als auch der Produktionsgewohnheiten zeitgenössischer Comedy hin. An der Ernsthaftigkeit, die den Humor der Sendung erst hervorbringt, besteht allerdings während der ganzen Zeit kein Zweifel.

Durchweg werden die Kinder als Individuen und Gleiche angesprochen und darum weder verhätschelt noch infantilisiert; mehrfach werden Topoi klassischer Kindersendungen aufgenommen und ad absurdum geführt. Typische Momente des Kinderlebens – beispielsweise nur ein Gericht zu mögen oder die mangelnde Aufmerksamkeit durch Erwachsene – werden mit Liebe zum Detail und Gefühl für existentielle Tiefe aufgenommen und humoristisch verarbeitet.

An keiner Stelle gibt die Sendung jedoch vor, eine »authentische« Kindheitserfahrung zu reinszenieren. Vielmehr betont Mulaney gleich zu Beginn, dass der treibende Impuls seine Erinnerung sei, die Erinnerung an die eigene Kindheit und das damalige Kinderfernsehen. Allerdings bleibt diese ästhetisch eingeholte Erinnerung nicht bloß subjektiv. Vielleicht weil Mulaney – wie er ebenfalls betont – weder Kinder hat noch Kinder möchte, nähert er sich dem Phänomen der Kindheit als ­etwas Vertrautem und Fremdem zugleich, zu dessen Erkundung es gewissermaßen der Hilfe der Kinder des »Sack Lunch Bunch« bedarf. Deutlich wird das bereits bei dem ersten Lied der Show. Mulaney spricht über seine Großeltern und erwähnt beiläufig einen Mann namens Paul, der sich in dem folgenden Lied als der neue Freund der verwitweten Großmutter herausstellt, den man aus der Perspektive des Enkels zunächst kritisch beäugt und schließlich als unverwechselbares Individuum, das der Großmutter Freude macht, akzeptiert, was der Refrain so schlicht wie treffend zum Ausdruck bringt: »Grandma’s got a boyfriend and his name is Paul.«

Nicht nur in diesem Lied, das stillschweigend voraussetzt, dass die Großeltern einmal sterben werden, ist der Tod präsent. Die Angst vor dem Tod ist vielmehr ein wiederkehrendes Motiv. Das macht eine in die Show eingezogene zweite, gleichsam reflexive Ebene deutlich, nämlich eingespielte, im Stil eines Vorsprechens gehaltene Interviewpassagen aller mitwirkenden Kinder sowie der meisten der zahlreichen Gäste (unter anderem die Schauspieler Natasha Lyonne, Richard Kind und Jake Gyllenhaal, die Broadway-Größe André De Shields sowie der ehemalige Talking-Heads-Sänger David Byrne). Ihnen allen wird die Frage nach ihrer größten Angst gestellt. Die Antworten reichen von Spinnen über Leitern, Clowns, Fahrstühle, Doppelgänger, Schlangen und Fische bis zu der Angst, zu ertrinken und Menschen, die man liebt, zu verlieren.

Zu Gast in John Mulaneys Show ist der Sitcom-Darsteller Richard Kind

Jugend forscht. Zu Gast in John Mulaneys Show ist der Sitcom-Darsteller Richard Kind

Bild:
Netflix/Jeffrey Neira

Für die Erwachsenen erweist sich die Übung zum einen als Erinnerung an das beharrlich Idiosynkratische in ihrem Leben, zum anderen als Annäherung an dasjenige, was die Welt der Erwachsenen, die man als Kind einmal ersehnte, zu der Hölle macht, die sie nicht selten ist. Richard Kind beispielsweise spricht von der Angst, die anderen könnten entdecken, dass man weniger intelligent ist, als es scheint; eine Angst, die nur in einer Welt möglich ist, in der die narzisstische Übertreibung, die Schaumschlägerei und die Verleugnung dessen, nicht über alles Bescheid zu wissen, zur Geschäftsgrundlage gehören. Bemerkenswerterweise sind es gerade nicht die Erwachsenen, sondern die Kinder, die immer wieder den Tod als ihre größte Angst nennen. Aber auch hier wird nicht einfach suggeriert, das Kind »an sich« sprechen zu lassen. Nicht nur dürfte es sich bei einigen dieser Antworten vor allem um Reflexionen der Ängste der Eltern handeln. Alle Passagen bleiben zudem inszeniert – nicht zuletzt, weil es sich durchweg um professionelle Kinderschauspieler handelt, die im Setting der Show ebenso sehr Kinder spielen, wie sie zugleich Kinder sind.

Am interessantesten sind deswegen jene Momente, in denen dieser Doppelcharakter zu flimmern beginnt, in denen das Kind gewissermaßen durchbricht oder sich als Eigenständiges und Individuelles geltend macht, wie als ein Mädchen von ihrer Therapeutin erzählt – zu der ihre Eltern sie natürlich geschickt haben –, die die Angst vor Clowns dadurch beheben möchte, dass sie das Kind in ein Clownskostüm steckt. Die Empörung über diese taschenpsychologische Übergriffigkeit wird sofort überführt in die mildernde Aussage, die Frau habe es wahrscheinlich nur gut gemeint.

Das schönste Lied der Show und der vielleicht prägnanteste Ausdruck dessen, was Kindheit bedeutet, handelt von einer im besten Sinne naiven Frage, die vielleicht wirklich nur ernst nehmen kann, wer sich das so oft verkitschte inner child noch nicht ganz ausgetrieben hat – jemand wie Mulaney, der sich an diese Frage erinnert. Das zauberhafte, aus nur wenigen Zeilen bestehende Lied »Do Flowers Exist at Night?« fragt nicht mehr, als was der Titel besagt: Gibt es Blumen auch nachts? Immer wieder nimmt sich das lyrische Ich des beschwingten, sich wie ein Wiegenlied wiederholenden Songs vor, nachts aufzustehen und nachzusehen. Freilich vergisst das Kind, die Probe aufs Exempel zu machen, und dieses Vergessen ist nichts anderes als die zögernde Akzeptanz der eben keinesfalls selbstverständlichen Tatsache, dass es die Welt auch beim Aufwachen noch geben wird. Dass der Gegenstand des Liedes gerade ein für zweckfreie Schönheit stehendes Naturding ist, zeigt zudem, dass sich die »existentiellen« Ängste des Kindes gerade noch nicht an vertraute oder geliebte Menschen heften, sondern ungleich fundamentaler an die Dingwelt, die dem Bewusstsein des Erwachsenen selbstverständlich ist.

So ist die Frage, ob es auch nachts noch Blumen gibt, zugleich die ­Frage, ob die Dinge und irgendwann auch die Menschen, die man gerade erst zu entdecken beginnt, von einem selbst abhängen oder ein Eigenleben führen. Das zu akzeptieren, wird gemeinhin Erwachsenwerden genannt. Aber dass die Frage in Vergessenheit gerät, ob es nachts auch Blumen gibt, spricht das Urteil über dieses Erwachsenenleben.

»John Mulaney and the Sack Lunch Bunch« kann bei Netflix gestreamt werden.