Ein Gespräch mit dem britischen Gewerkschafter Colenzo Jarrett-Thorpe über die ­Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen

»Dinge passieren nicht schnell genug«

Interview Von

Wie wirkt sich die Covid-19-Pandemie insbesondere auf Ihre Mitglieder im National Health Service (NHS) aus?

Ein Problem für unsere Mitglieder ist, dass sie als Beschäftigte im Gesundheitswesen unverzichtbar sind und nicht von zu Hause aus arbeiten können. Sie arbeiten an vorderster Front in Krankenhäusern oder in einer Gemeinde, dienen weiterhin der Öffentlichkeit und stellen sicher, dass die Bevölkerung gesund bleibt. Das zweite Problem ist das Fehlen persönlicher Schutzausrüstung (PSA). Wir bekommen fast stündlich Beschwerden darüber, dass Arbeitnehmer gefährdet sind, weil sie nicht die PSA haben, die sie benötigen. Sie berichten, dass sie sich in gefährliche Situationen begeben, weil sie bei der Versorgung von Covid-19-Patienten nur Handschuhe, eine Schürze und eine Maske erhalten.

Können Sie Beispiele nennen?

Gesundheitspersonal der Gemeinden, von dem beispielsweise erwartet wird, Mütter nach der Geburt zu Hause zu besuchen, erhält nicht die richtige PSA. Oder Sanitäter fragen, ob und wie sie eine Person reanimieren, die möglicherweise Covid-19 hat. Es verstößt gegen alle Anweisungen von social distancing, wenn sie nicht über ausreichende Ausrüstung verfügen. Es verstößt auch gegen die Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO), nach denen beispielsweise langärmelige Kittel vorgeschrieben sind. Im NHS England – es gibt Unterschiede in der Art und Weise, wie der NHS in Schottland, Wales und Nordirland betrieben wird – unterscheiden sich diese Leitlinien von denen der WHO. Ähnlich verhält es sich mit Leichensäcken. Die neuen NHS-Richtlinien besagen, dass jemand, der verstirbt und bei dem der Verdacht besteht, an Covid-19 gelitten zu haben, keinen Leichensack benötigt. Solche Dinge passieren jeden Tag und einige unserer Mitglieder müssen sich entscheiden, ob sie dennoch ihre Arbeit tun, auch wenn sie sich selbst und ihre Familie dabei in Gefahr bringen.

Was raten Sie Ihren Mitgliedern, die einen Mangel an Schutzausrüstung melden?

Wir fordern sie auf, sich nicht in Situationen zu begeben, in denen sie sich unwohl fühlen. Wenn sie das Gefühl haben, nicht genug PSA zu haben, bitten wir sie, ihr Management und ihren Gewerkschaftsvertreter zu informieren. Wenn sich Menschen in einer Situation befinden, in der sie sich selbst einem Risiko aussetzen, sollten sie nicht bestraft werden, wenn sie nicht in dieser Situation sein möchten. Wir wissen, dass dies für unsere Mitglieder schwierig ist, weil die meisten von ihnen ihr Bestes geben wollen. Eine unserer Vertreterinnen ist Sanitäterin. Sie musste sich eine Woche lang selbst isolieren, aber sie war unglaublich traurig darüber, denn es bedeutete, dass sie nicht arbeiten konnte. Wissen Sie, Angestellte im Gesundheitswesen wollen ihre Arbeit machen, sie wollen der Öffentlichkeit dienen und helfen, die Menschen zu heilen.

Wenn die Regierung nicht in der Lage ist, die Mitarbeiter des NHS zu schützen – welche Möglichkeiten haben die Angestellten, für ihre Rechte zu kämpfen?

Wir fordern unsere Mitglieder auf, sich an ihre Gewerkschaften zu wenden, damit sie gemeinsame Erklärungen über den Mangel an PSA abgeben, aber auch individuell das Wort ergreifen können. Wir haben Leute, die wir »Freedom to Speak Up Ambassadors« nennen. An diese können sich unsere Mitglieder wenden. Im Allgemeinen sollten sie so vielen Menschen wie möglich erzählen, was passiert und dass sie nicht die PSA haben, die sie brauchen. So kann man protestieren. Die Angestellten können sich auch entscheiden, dass sie sich nicht in eine gefährliche ­Situation begeben wollen. Sie haben diese Wahl.

Sie sagten, dass die Angestellten der Öffentlichkeit dienen wollen. Was hindert sie außer dem Mangel an PSA noch daran?

Es gibt nicht genügend Tests und auf jeden Fall werden nicht genug NHS-Mitarbeiter getestet. Wenn sie nicht getestet werden, können die NHS-Mitarbeiter mit Verdacht auf Covid-19 nicht arbeiten.

Was unternimmt Unite, um Mit­gliedern im Gesundheitswesen zu helfen?

Wir arbeiten Tag und Nacht. Wir versuchen, mit unseren Mitgliedern in Kontakt zu bleiben, sie am Arbeitsplatz zu beraten und ihnen zu helfen. Vor allem tun wir das auf lokaler Ebene durch unsere regionalen Beauftragten und Organisatoren. Wir versuchen auch, mit anderen Gewerkschaften eine gemeinsame Antwort auf einige dieser Probleme zu erarbeiten und mit der Regierung zu verhandeln.

Wie wollen Sie die Regierung davon überzeugen, dass mehr getan werden muss?

Heute nach unserem Gespräch habe ich einen Termin mit dem leitenden Gesundheitsbeauftragten der Regierung, um über PSA zu sprechen. Es hat lange gedauert, dies zu erreichen, und wir mussten starken Druck auf die Regierung ausüben. Wir möchten der Re­gierung mitteilen, vor welchen Problemen unsere Mitglieder stehen, und hoffen, dass sie in Zukunft schneller reagiert. Einige unserer Bedenken tragen wir schon seit zwei bis drei Wochen vor. Die Dinge passieren einfach nicht schnell genug.

Was erhoffen Sie sich von diesem Termin?

Ich möchte mehr Transparenz. Und ich möchte gehört werden. Es ist nicht die Zeit, einen Streit anzufangen, aber ich möchte wissen, warum die Regierung nicht dem Rat der WHO folgt. Was sind die Hintergedanken der Regierung? Geht es darum, Leben zu retten oder Geld zu sparen? Fairerweise muss man sagen, dass die Regierung viel Geld für Menschen zur Verfügung stellt, deren Arbeitsmöglichkeit von der Pan­demie eingeschränkt ist, etwa durch die Fortzahlung von 80 Prozent ihres Gehalts. Auch an einer Unterstützung für Selbständige wird gearbeitet. Aber es dauert zu lange, bis die Leute das Geld oder die Hilfe bekommen, die sie brauchen. Ich möchte einen Weg finden, dieses Problem zu lösen, damit die Leute schneller die Hilfe bekommen, die sie brauchen. Ob es genug Geld ist, bleibt abzuwarten.

Sowohl der NHS als auch die Sozialfürsorge arbeiteten vor der Pandemie an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Warum war der NHS auf eine Krise dieser Größenordnung schlecht vorbereitet?

Wir wären mit einer solchen Krise niemals fertig geworden, weil die Regierung im Rahmen ihrer Sparmaßnahmen seit Jahren die Mittel für den NHS kürzt. Seit der Gründung des NHS im Jahr 1948 wurde die Finanzierung durchschnittlich um rund 3,8 Prozent jährlich erhöht. Bis voriges Jahr und in den zurückliegenden zehn Jahren stieg die Finanzierung des NHS jedoch jährlich nur um ein Prozent. Inflationsbereinigt ist das Budget real gesunken. Das macht es schwierig, das System auf dem gleichen Standard zu halten, geschweige denn es zu erweitern oder zu verbessern. Deshalb hat es sich eigentlich zurückentwickelt.

Gibt es andere Faktoren, die zum schlechten Zustand des NHS bei­tragen?

Unbesetzt bleibende Stellen und Lohnstopps sind weitere Gründe. Im NHS gibt es 100 000 offene Stellen. Es gibt nicht genug Krankenpfleger, wir bilden nicht genug Ärzte aus und die Zahl der klinischen Psychologen, Sanitäter, Inspektoren, Gemeindeschwestern und Helfer für Menschen mit Lernschwäche sank in den vergangenen fünf Jahren um 33 Prozent. Jetzt wird offensichtlich, dass ohne qualifiziertes NHS-Personal viele der Dienstleistungen, die wir erbringen möchten, nicht erbracht werden können. Hinzu kommt der anhaltende Lohnstopp. Die NHS-Löhne wurden lange Zeit eingefroren und nur in einem der vergangenen zehn Jahre war ein Anstieg über der Inflationsrate zu verzeichnen. Probleme entstehen auch, weil die bröckelnde Infrastruktur nicht repariert wird und keine Investitionen in Krankenhäuser, Einrichtungen und Geräte getätigt werden. Es ist ein ganzer Cocktail an Kürzungen und Sparmaßnahmen, der uns in diese Situation gebracht hat.

Erschwert das den Schutz der Arbeitnehmer im NHS?

Unser Problem ist die Fragmentierung des Systems insbesondere in England. Allein in England gibt es mehr als 200 verschiedene NHS-Arbeitgeber. Das Gespräch mit Gewerkschaften sehen sie nur als letzten Ausweg. Außerdem gibt es keine Kultur der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen NHS-Arbeitgebern, was einen Wettbewerb schafft, der falsch ist. Einige dieser Arbeitgeber betreiben ihren öffentlichen Dienstleistungsbetrieb wie ein Unternehmen und nur aus Eigennutz. Wenn wir weniger und größere Arbeitgeber hätten, würde dies zu mehr Zusammenarbeit und weniger Wettbewerb führen. Dies ist in Schottland, Wales und Nordirland der Fall, wo es weit weniger Arbeitgeber gibt. Die Fragmentierung des Systems ist ein englisches Problem.

Wie schätzen Sie die Zukunft des Gesundheitssektors nach dieser Pandemie ein?

Ich mache mir Sorgen, dass die Menschen nicht verstanden haben, warum wir den NHS brauchen, warum er gut ­finanziert und reich ausgestattet sein muss. Es geht darum, wie unsere ­Gesellschaft aufgebaut ist und welcher Stellenwert dem NHS zukommt. Momentan stehen jeden Donnerstag um 20 Uhr Leute in ihren Türen und klatschen für den NHS. Aber wenn das geendet haben wird – kehren wir zum Normalbetrieb der vergangenen Jahre zurück oder wird sich das, was wir für wichtig halten, grundlegend ändern? Was als wichtig angesehen werden sollte, sind öffentliche Dienste, deren Funktionsfähigkeit unerlässlich ist. Es ist entscheidend, dass wir uns daran erinnern und sicherstellen, dass wir in öffentliche Dienstleistungen investieren. Gewerkschaften und Arbeitnehmer müssen in die Gestaltung dieser Dienstleistungen einbezogen werden. Es ist wichtig, dass in unserer Gesellschaft Menschen Arbeit haben und gut bezahlt werden und es die erforderlichen öffentlichen Dienstleistungen gibt. Es geht darum, das nicht zu vergessen, wenn wieder normale Zeiten anbrechen.