Behindertenverbände protestieren gegen Triage-Empfehlungen

Im Notfall schlecht sortiert

Was soll geschehen, wenn in Kliniken nicht mehr alle an Covid-19 Erkrankten versorgt werden können? Ein Zusammenschluss aus mehreren medizinischen Fachgesellschaften veröffentlichte kürzlich Empfehlungen für den Notfall. Behindertenverbände kritisieren die Vorschläge.

Noch nehmen einige deutsche Krankenhäuser Covid-19-Patientinnen und -Patienten aus Italien oder Frankreich auf, die dort nicht mehr versorgt werden können. Doch Wissenschaftler und Politiker befürchten, dass es nur um eine Frage der Zeit ist, bis auch hierzulande nicht mehr alle schwer Erkrankten versorgt werden können. In einigen europäischen Ländern mussten Ärztinnen und Ärzte bereits entscheiden, welche Personen beatmet werden und welche nicht.

Der Begriff Triage – das französische Wort für Sortierung – stammt aus Kriegszeiten und wird heutzutage beispielsweise dann verwendet, wenn bei einem Unfall viele Menschen schwerverletzt sind und schnell entschieden werden muss, wer zuerst versorgt wird. Zu einer Triage, bei der über die Zuteilung knapper Ressourcen für lebensgefährlich Erkrankte entschieden werden musste, ist es in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht gekommen. Die aus sieben Fachgesellschaften bestehende Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) veröffentlichte kürzlich Empfehlungen für den Fall, dass sich das im Laufe der Covid-19-Epidemie ändern sollte.

Hauptkritikpunkt der Behindertenverbände ist, dass die medizinischen Fachgesellschaften gar nicht autorisiert seien, Triage-Empfehlungen auszusprechen.

Während ein Krankenhaus im Elsass bereits vor einigen Wochen ankündigte, keine Personen über 80 Jahren mehr zu behandeln, darf Richtlinien der DIVI zufolge das Alter allein kein ausschlaggebendes Kriterium für die Intensivversorgung sein. Auch soziale Merkmale wie Geschlecht, Herkunft oder Familienstand sollen nicht in die Überlegungen einfließen. Vor allem die Erfolgsaussicht intensivmedizinischer Maßnahmen soll entscheidend sein. Dazu haben die Fachgesellschaften verschiedene Kriterien aufgestellt. Vermindert wird die Erfolgsaussicht beispielsweise durch schwere akute oder chronische Organversagen, eine schwere Immunschwäche oder eine weit fortgeschrittene Krebserkrankung. Auch der allgemeine Gesundheitszustand soll berücksichtigt werden.

Vor allem diesen Punkt kritisieren Vereine, die sich für die Rechte behinderter Menschen einsetzen. Denn der Gesundheitszustand soll unter anderem anhand der sogenannten »Clinical Frailty Scale« ermittelt werden, die die Gebrechlichkeit – so die deutsche Übersetzung von »frailty« – von Patientinnen und Patienten in neun Stufen unterteilt. In einer Stellungnahme der Vereine Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben (ISL e.V.) und Netzwerk Artikel 3 kritisieren die Autoren, dass diese Einteilung auf einem »veralteten und fragwürdigen Verständnis von Menschen mit Beeinträchtigungen« beruhe. Zum Ausmaß der Gebrechlichkeit gehört der Skala zufolge beispielsweise, inwieweit Menschen im Alltag für Fortbewegung und andere Aktivitäten Unterstützung benötigen. Als »stark gebrechlich« werden Personen eingestuft, die aufgrund physischer oder kognitiver Beeinträchtigung vollständig auf Assistenz angewiesen sind, auch wenn ihr Zustand stabil ist.

»Das hat erst einmal nichts damit zu tun, wie wirksam irgendwelche Beatmungs- oder Therapieversuche sind«, sagte Sigrid Arnade, eine ehemalige Geschäftsführerin des ISL und Mitautorin der Stellungnahme, der Jungle World. Wenn jemand, der im Rollstuhl sitzt, schlechter eingestuft werde als jemand, der das nicht tut, dann sei das eine Unterscheidung zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben. »Das ist mit unserem Grundgesetz nicht vereinbar«, so Arnade.

Das britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE) hat Ende März eigene Richtlinien für den Fall knapper Ressourcen veröffentlicht, die ebenfalls die Anwendung der »Clinicial Frailty Scale« vorsahen. Nach Protesten von Verbänden, die ähnlich wie in Deutschland eine Diskriminierung behinderter Menschen befürchten, kündigte das Institut an, die Richtlinien so zu überarbeiten, dass junge Menschen und Menschen mit stabilen Langzeitbehinderungen von der Skala ausgenommen werden. Auch eine Triage-Richtlinie aus dem Bundesstaat Alabama in den USA, die empfahl, Menschen mit »geistiger Unterentwicklung, fortgeschrittener Demenz oder schwerem Schädel-Hirn-Trauma« im Falle knapper Ressourcen als erste nicht mehr zu beatmen, sorgte für Proteste. Das Alabama Department of Public Health hat die Vorgaben jüngst geändert, um Diskriminierung auszuschließen.

Dass solche Überlegungen überhaupt erforderlich sind, führen die Autoren der deutschen Stellungnahme auch auf politische Entscheidungen der vergangenen Jahre zurück. Anders als in der Notfallmedizin entstehe die Notwendigkeit der Triage in der Coronakrise nicht aus Zeitdruck, sondern wegen der »historisch geschaffenen und aktuell vorhandenen medizinischen Ressourcen«. Hans-Günter Heiden von Netzwerk Artikel 3 findet, diese Tatsache sollte auch in Empfehlungen berücksichtigt werden. »Wenn ich vorher ein Gesundheitssystem kaputtgespart habe, fallen Triage-Kriterien anders aus«, sagte der Redakteur der von Netzwerk Artikel 3 herausgegebenen Zeitschrift Behinderung & Menschenrecht der Jungle World.

Hauptkritikpunkt der Vereine ist allerdings, dass die Fachgesellschaften gar nicht autorisiert seien, derartige Empfehlungen auszusprechen. Stattdessen sei das eine Frage, mit der sich der Bundestag auseinandersetzen müsse, unter Beteiligung von medizinischen Fachgesellschaften, Behindertenverbänden, Migrantenorganisationen und des Ethikrats. Zugleich müssten die medizinischen Ressourcen so ausgebaut werden, dass eine Triage gar nicht erst notwendig wird.