Sachsen zeigt sich bei der Bekämpfung von Covid-19 autoritär

Autoritär gegen das fremde Virus

Der nahe Osten – eine Kolumne über die sächsischen Verhältnisse: Pandemiebekämpfung auf Sächsisch

»Wir wollen hier keine Westverhältnisse!« riefen viele Teilnehmer an rassistischen Protesten gegen die Unterbringung Geflüchteter im Osten Deutschlands in den vergangenen Jahren häufig. Möglicherweise fühlen diese Rufer sich zurzeit bestätigt in ihrer Ablehnung all dessen, was unbekannt und fremd erscheint. Denn die Zahl der nachgewiesenen Covid-19-Infektionen ist im Osten weitaus geringer als im Rest der Republik. Die ostdeutschen Bundesländer weisen im Schnitt 70 Fälle pro 100 000 Einwohner auf, im westdeutschen Durchschnitt sind es dagegen 156. Der Unterschied dürfte nicht effektiveren Maßnahmen zu verdanken sein, sondern eher zeigen, dass die globalisierte Moderne in vielen Regionen des Ostens immer noch nicht angekommen ist. Dazu kommt wohl eine schwächer ausgeprägte Reiselust, was nicht nur den im Durchschnitt geringeren Einkommen zuzuschreiben ist. Eine Bevölkerung, deren wählender Teil wie in Sachsen zu einem Viertel den Faschisten der AfD ihre Stimme gibt, hat wohl auch weniger Interesse, die Welt außerhalb des eigenen Schrebergartens kennenzulernen. Überdies sind die zahlreichen Nachrichten von rassistischen Vorfällen und extrem rechter Gewalt kein Anreiz für andere Menschen, die ostdeutschen Regionen zu bereisen.

Der Freistaat Sachsen musste trotz geringer Infektionszahlen bei den Maßnahmen zur Eindämmung des Virus erneut seinen Hang zum Autoritären beweisen und verhängte so wie Bayern mit einer »Allgemeinverfügung« die restriktivsten Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens in Deutschland. Das Haus durfte man nur mit »triftigem Grund« verlassen, Kontakte mit anderen Menschen waren – außerhalb des Arbeitsplatzes, versteht sich – grundsätzlich verboten, sofern es sich nicht um Mitbewohner oder Lebenspartner handelte. Spazierengehen mit der besten Freundin, die gesunden Eltern im anderen Stadtteil besuchen? 150 Euro Strafe. Auch durfte man sich nur »vorrangig im Umfeld des Wohnbereichs« bewegen. Besonders diese Regelung sorgte für viel Verwirrung sowie Dutzende Bußgeldbescheide, die aber schon kurz darauf wieder hinfällig waren, da sich Polizei und Innenministerium offenbar nicht einig waren, was diese Formulierung konkret bedeuten sollte. Der gestattete Radius wurde dann per Gerichtsbeschluss auf 15 Kilometer festgelegt. Was als »triftiger Grund« galt, unterlag aber weiterhin dem »Augenmaß der Ordnungsbehörden und Polizeibeamten« (Innenminister Roland Wöller, CDU). Bedenkt man die zahlreichen Verbindungen sächsischer Polizisten in das extrem rechte Milieu, wirkte diese Regelung nicht besonders vertrauenerweckend. Sie ist erst zu Beginn dieser Woche wieder leicht gelockert worden.

Die mitregierenden Sozialdemokraten scheinen ebenfalls ihre Liebe für autoritäre Krisenlösungen (wieder-)entdeckt zu haben. Vor zwei Wochen gab das von der SPD geführte Sozialministerium bekannt, in vier psychiatrischen Kliniken würden 22 Zimmer freigemacht, um dort zwangsweise Menschen unterzubringen, die gegen ihre Quarantäneauflagen verstoßen. Nach Kritik revidierte Sozialministerin Petra Köpping (SPD) die Pläne kurz darauf und sagte, die psychiatrischen Landeskrankenhäuser stünden doch nicht mehr zur Verfügung. Das Gefühl aber bleibt, dass die Coronakrise auch dafür genutzt wird, zu testen, welche Maßnahmen die Leute zu akzeptieren bereit sind. Für die in Sachsen noch zahlreicher als anderswo anzutreffenden autoritären Charaktere scheinen die Ausgangsbeschränkungen sowieso ein Fest zu sein: Ein Drittel der Polizeieinsätze wegen Verstößen gegen die Anordnungen ging auf Hinweise aus der Bevölkerung zurück.

Sachsen wäre nicht Sachsen, würde hier der Kampf gegen die Pandemie nicht identitär aufgeladen. »Sachsen ist unsere Heimat. Wir setzen alles daran, damit unsere Bürgerinnen und Bürger weiterhin frei und sicher in einem starken und liebenswerten Sachsen leben können«, appellierte Innenminister Wöller an das regionalpatriotische Gefühl. Zum Osterfest beglückte dann Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) per Post seine Untertanen mit einem Brief: »Wir alle haben die Erfahrung gemacht, wie wichtig Mitmenschlichkeit, Solidarität und Nächstenliebe sind und wie eng wir Sachsen zusammenhalten, wenn wir es wollen.« Sachsen ist in der Welt allerdings nicht gerade für Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe bekannt. Die Image-Kampagne »So geht sächsisch« wurde 2015 sogar unterbrochen, weil durch die rassistischen Ausschreitungen in Heidenau und Freital zu offensichtlich geworden war, dass viele Menschen in diesem Freistaat keineswegs »frei und sicher« leben können. An den sächsischen Verhältnissen hat sich wenig geändert, die neue Gefahrensituation aber verlangt nach neuerlicher kollektiver Identitätsstiftung. So wurde die schon vor der Krise peinliche Image-Kampagne mittlerweile in den Dienst der Pandemiebekämpfung gestellt, der Slogan »Sachsen bleibt daheeme« ruft in Mundart zum Zuhausebleiben auf. Vergangene Woche forderte dann der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der sächsischen SPD, Henning Homann, der Freistaat solle einen eigenen Ethikbeirat installieren, der den Eigenheiten von Land und Leuten gerecht werde: »Jedes Land tickt anders. Und gerade die Sachsen ticken anders.« Man kann nur hoffen, dass die Pandemie schnell genug unter Kontrolle ist, dass niemand erfahren muss, wie genau eine »sächsische Ethik« aussähe.