Die Verbrechen des Nationalsozialismus bleiben Deutschlands »negatives Eigentum«

Eigentum vergeht nicht

Viele nationalsozialistische Verbrechen blieben ungesühnt, die Täterinnen und Täter unbehelligt. Am 8.Mai sollte auch das daraus resultierende »negative Eigentum« ins Gedächtnis gerufen werden.
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Am 13.Mai 1944, knapp ein Jahr vor der Kapitulation Hamburgs, führte die Gestapo eine Razzia im Hafenviertel durch. Die Straßenzüge rund um die Schmuckstraße, das sogenannte Chinesenviertel, wurden abgeriegelt, 129 Männer verhaftet und in Arbeitslager überstellt. Vordergründig ging es um die Bekämpfung von »Feind­begünstigung«, die den ehemaligen chinesischen Seeleuten als Staatsangehörigen einer feindlichen Macht unterstellt wurde. ­Tatsächlich verband sich mit der Eliminierung des Quartiers aber ein »rassenhygienisches« Ziel: Die Chinesen und ihre Kinder mit deutschen Frauen galten als Gefahr für das »deutsche Blut«. In der Bundesrepublik, der Rechtsnachfolgerin des »Dritten Reichs«, ­erhielten die wenigen klagenden Chinesen und ihre Angehörigen keinerlei Entschädigungen, weil Gerichte in der Aktion kein typisch nationalsozialistisches Unrecht erkennen wollten; die Verfolgten wurden nicht rehabilitiert.


Die Begründung entspricht derjenigen in sehr vielen vergleichbaren Urteilen. Das Bundesentschädigungsgesetz war darauf angelegt, die Zahl der Anspruchsberechtigten möglichst klein zu halten, und verschleierte die Dimensionen des Unrechts. Warum aber gibt es in dem Land, das sich so viel auf die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen als historische Eigenleistung zugute hält, keine staatlichen und nur wenige zivilgesellschaftliche Initiativen, die sich – wenn schon die Verfolgung von Täterinnen und ­Täter vieler ungesühnter Verbrechen kaum mehr möglich ist – für die Zahlung von Reparationen und individuellen Entschädigungen einsetzen? Wäre das für den 8. Mai dieses Jahres, den 75. Jahrestag des alliierten Siegs über den Nationalsozialismus, vielleicht das richtige Motto: »Entschädigungen jetzt«?


Es ist kaum anzunehmen, dass eine Debatte darüber anheben wird. »Warum soll ich für das zahlen, was meine Großeltern gemacht haben?« fragen Schülerinnen und Schüler oft, falls beim Unterricht über den Nationalsozialismus die Frage der Entschädigung überhaupt angesprochen wird – wobei es in der Regel die Urgroß­eltern sind, um die es gehen müsste, was die Motivation sicher nicht steigert. Sehr tief sitzen das Verständnis und der Wunsch, mit dem Sterben der letzten Verfolgten, Misshandelten und Geschädigten wie auch der letzten Täterinnen und Täter einerseits sowie mit Gedenkstätten, Gedenktagen und pädagogischer »Erinnerungsarbeit« andererseits möge die Schuld, die »Vergangenheit, die nicht vergeht«, das sogenannte negative Erbe endlich doch vergehen beziehungsweise angemessen bearbeitet sein.


Die Begriff »negatives Erbe« wird oft dem Holocaustüberlebenden Jean Améry zugeschrieben. Dieser sprach jedoch vom »negativen Eigentum« Deutschlands. Unter bestimmten Voraussetzungen, schrieb Améry, sei vielleicht die Möglichkeit realisierbar, dass Deutschland die zwölf Jahre, die für andere tausend gewesen seien, »als seine verwirklichte Selbst- und Weltverneinung, als sein nega­tives Eigentum in Anspruch nehmen« könne. Negatives Eigentum ist mehr und etwas anderes als das negative Erbstück, das »Groß­eltern« in Form eines arisierten Schrankes hinterließen oder das als arisiertes Gemälde in staatlichen Galerien hängt. Es umfasst in Hamburg das fehlende »Chinesenviertel«, weltweit die fehlenden jüdischen Familienmitglieder, das Unrecht, das nicht mit der konkreten Schuld von Verantwortlichen endet und früh in das überging, was der Journalist, Schriftsteller und Regisseur Ralph Giordano die »zweite Schuld« nannte. 75 Jahre Kriegsende wären ein Anlass, endlich den sogenannten Zwei-plus-vier-Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR einerseits und den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs andererseits durch einen echten Friedens­vertrag mit Regelung der Reparations- und Entschädigungsansprüche der Opfer zu ersetzen.