Ein Urteil in den Niederlanden erleichtert die Euthanasie von Demenzkranken

Wenn der Todeswunsch widerrufen wird

Das höchste niederländische Gericht hat in einem Euthanasiefall entschieden, in dem die Patientin an Alzheimer erkrankt war. Die Euthanasie von demenzkranken Menschen wird dadurch erheblich erleichtert.

Die mündliche Urteilsverkündung des Hoge Raad (Hohen Rats), des höchsten niederländischen Gerichts, fand am 21. April in Den Haag fast ohne Zuschauer statt – die niederländische Justiz hat wegen der Covid-19-Pandemie den Zugang der Öffentlichkeit zu den Verhandlungen erheblich beschränkt. Dabei wurde das Urteil über den ersten höchstrichterlich verhandelten Euthanasiefall seit Inkrafttreten des »Gesetzes über die Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und der Hilfe bei der Selbsttötung« am 1. April 2002 mit einigem Interesse erwartet. Angeklagt war eine 1950 geborene Fachärztin für Geriatrie, die 2016, wie es in dem Urteil heißt, »das Leben ihrer Patientin auf deren ausdrücklichen und ernsthaften Wunsch hin absichtlich durch Euthanasie beendet hat«.

Das Besondere an diesem Fall: Die zum Zeitpunkt ihres Todes 74jährige Patientin war an Alzheimer erkrankt. Zehn Tage nachdem ihre Ärztin ihr am 2. Oktober 2012 diese Diagnose mitgeteilt hatte, unterzeichnete die Erkrankte ein Bündel Erklärungen: eine Muster-Euthanasieverfügung der Nederlandse Vereniging voor een Vrijwillig Levenseinde (NVVE), eine Vollmacht für medizinische Entscheidungen, mit der sie ihren Mann und ihre Tochter autorisierte, und ein Behandlungsverbot. Eine der Klauseln überarbeitete sie 2015, mehr als ein Jahr vor ihrem Tod, mit ihrem Hausarzt: Sie hielt fest, auf keinen Fall in ein Altenheim zu wollen. Auch den Einleitungssatz wurde änderte sie, er lautete nun: »Ein Arzt soll meinem Leben ein Ende setzen, wenn ich denke, dass die Zeit dafür reif ist.«

Wer sich entscheidet, sterben zu wollen, wenn die Zeit »reif« dafür ist, behält sich damit das Recht vor, diesen Zeitpunkt selbst zu bestimmen – und auch, die Zeit vielleicht nie für reif zu halten.

Die Geschehnisse des vor drei Jahren im offiziellen Jahresbericht der »Regionalen Euthanasie-Überprüfungskomitees« veröffentlichten »Fall 2016-85« verliefen anders, als man es sich beim freiwilligen Sterben gemeinhin vorstellt. Die gesundheitliche Situation der dementen Frau hatte sich in den Monaten vor ihrem Tod rapide verschlechtert, so dass das, was sie verhindern wollte, als unausweichlich galt: in ein Pflegeheim umzuziehen. Kurze Zeit vor ihrem Umzug ins Pflegeheim führten Hausarzt und Ehemann noch ein Gespräch mit ihr darüber, ob nicht der Zeitpunkt des in der Patientenverfügung niedergelegten Euthanasiewunschs gekommen sei. Die Patientin reagierte abweisend. Nachdem der Hausarzt ihr daraufhin erläutert hatte, dass sie möglicherweise in ein Pflegeheim umziehen müsse, wenn ihr Gesundheitszustand sich weiter verschlechtere, entgegnete sie, dass dann vielleicht der richtige Zeitpunkt für Euthanasie gekommen sei.

Beim Interview, das der Aufnahme ins Pflegeheim vorangeht, bat der Ehemann den dort tätigen Arzt, seine Frau auf Grundlage ihrer Patientenverfügung zu töten. Der Arzt beobachtete die Patientin daher und kam zu der Überzeugung, dass sie zwar die Bedeutung der Wörter »Demenz« und »Euthanasie« nicht mehr verstehe, aber ihr Todeswunsch akut sei.

Allerdings lehnte es die Patientin, auch als sie schon in der Pflegeeinrichtung lebte, bei verschiedenen Gelegenheiten ab, sich töten zu lassen, wenn die Rede darauf kam: So schlimm sei es noch nicht, sagte sie dann. Zwei ärzt­liche Spezialisten für Euthanasieberatung, die hinzugezogen wurden, kamen dennoch zu dem Ergebnis, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Euthanasie erfüllt seien: unerträgliches Leiden ohne Behandlungsmöglichkeit und ein freiwilliger und wohldurchdachter Wunsch. Die Tochter und der Ehemann der Patientin entschieden schließlich, dass die Tötung vollzogen werden solle. Die behandelnde Ärztin mischte im Beisein der Angehörigen ohne Wissen der Patientin ein Beruhigungsmittel in ihren Kaffee, injizierte später eine weitere Dosis des Sedativums und dann das tödlich wirkende Betäubungsmittel. Während dieser letzten Injektion wachte die Patientin auf und wehrte sich, die Angehörigen hielten sie schließlich fest, bis sie gestorben war.

Das regionale Euthanasie-Überprüfungskomitee ­gelangte zu der Auffassung, die Ärztin, die die tödliche Medikation verabreicht hatte, habe die Grenzen des Zulässigen überschritten. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage, weil auch sie der Auffassung war, dass die Ärztin mit der Patientin hätte klären müssen, ob sie nun sterben wolle. Das Landgericht in Den Haag sah das anders und sprach die Ärztin frei: Die Patientin sei in erheblichem Ausmaß dement gewesen, so dass sie sich an ihre früheren Überlegungen nicht mehr erinnert habe. Der aktuelle natürliche Wille der Patientin sei in diesem Fall weniger erheblich als die schriftliche Verfügung.

Die Generalstaatsanwaltschaft ist gegen diese Entscheidung in die Revision gegangen – weniger, weil sie eine Verurteilung der Ärztin erreichen wollte, als weil ihr einige Rechtsfragen klärungsbedürftig erschienen. Insbesondere wie die vorherige schriftliche Verfügung und der natürliche Wille zum Zeitpunkt der Tat gegeneinander abzuwägen seien, harrte der Klärung. Während die Ankläger im Verfahren dem natürlichen Willen Bedeutung beimaßen, der hier durch Äußerungen und die Gegenwehr gegen die Verabreichung der tödlich wirkenden Medizin deutlich wurde, gingen das erstinstanzliche Gericht und schließlich auch der Hohe Rat davon aus, dass eine mündliche Äußerung nur relevant sein könne, wenn die Patientin noch einwilligungsfähig sei. Alles andere, so die Auffassung der Juristen, setze eine Verfügung zu leicht außer Kraft. Auch die in einer zweiten Fassung der Patientenverfügung enthaltene Einschränkung, dass Euthanasie nur vollzogen werden solle, wenn die Patientin das ausdrücklich wünsche (und »die Zeit reif dafür« sei), überzeugte das Gericht nicht. Der ­aktuelle Wille sei unerheblich, weil die demente, nicht mehr einwilligungs­fähige Patientin den Sinn der auf Basis der Verfügung geplanten Euthanasie nicht mehr habe verstehen können.

Diese Gewichtung, die den aktuellen, natürlichen Willen von Menschen zu einer zu vernachlässigenden Größe macht, erscheint wenig überzeugend. Zwar mag der natürliche Wille einer dementen oder einer psychisch erkrankten Person weniger reflektiert sein – die Person weiß jedoch durchaus, wie sie sich fühlt und wie sie die Situation tatsächlich erlebt, die sie zuvor nur antizipiert hat. Paragraph 1901a BGB, der die Patientenverfügung in Deutschland regelt (mit der man allerdings keine Tötung verlangen kann), löst dieses Dilemma anders auf: Die Patientenver­fügung muss schriftlich erfolgen und setzt Einwilligungsfähigkeit voraus – der Widerruf einer Patientenverfügung ist allerdings jederzeit und formlos möglich. Auch hierzulande wird das Problem gesehen, dass auf diesem Weg eine wirksame Patientenverfügung umgegangen werden könnte. Darüber muss dann gegebenenfalls ein Gericht entscheiden.

Die vom Hohen Rat vertretene Auffassung, die den natürlichen Willen zum Willen zweiter Klasse macht, ist auch mit Blick auf internationale menschenrechtliche Normen, insbesondere die UN-Behindertenrechtskonvention, eher fragwürdig. Dieser Menschenrechtsvertrag regelt in Artikel 12, dass Menschen mit Behinderungen grundsätzlich rechts- und handlungsfähig sind, das heißt, sie müssen auch eine Euthanasieverfügung oder sogar eine erteilte Vollmacht widerrufen können. Es müssten allerdings Maßnahmen ergriffen werden, um sie zu be­fähigen, diese Rechts- und Handlungsfähigkeit auch auszuüben. Das können beispielsweise psychologische Gespräche sein oder auch andere Formen von Unterstützung. Einen Menschen auf der Basis einer vor längerer Zeit gefassten Patientenverfügung zu töten, ohne sich eingehend und so eingehend wie nur möglich mit seinen aktuellen Wünschen zu befassen, erscheint mit den genannten Normen nicht vereinbar. Wer sich entscheidet, sterben zu wollen, wenn die Zeit »reif« dafür ist, behält sich damit das Recht vor, diesen Zeitpunkt selbst zu bestimmen – und auch, die Zeit vielleicht nie für reif zu halten.

Mit seiner Entscheidung hat der Hohe Rat – was nicht wenige niederländische, aber auch internationale Kommentatorinnen und Kommentatoren vermerkt haben – es für die Zukunft leichter gemacht, die Euthanasie an Menschen vorzunehmen, die an Demenz erkrankt sind. Die Richter des Hohen Rats haben die Staatsanwaltschaft zudem dafür gerügt, das Verfahren überhaupt vor Gericht gebracht zu haben. Das dürfte künftige Überprüfungen der Rechtsauslegung in diesem heiklen Bereich nicht erleichtern.